Читать книгу «Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Эрих Марии Ремарк — MyBook.
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Ich begann wieder zu essen. Unangenehme Erinnerungen hatten etwas Gutes: sie überzeugen einen, dass man glücklich war, wenn man eine Sekunde vorher noch geglaubt hat, es nicht zu sein. Glück ist eine Sache von Graden. Wer das beherrscht, ist selten ganz unglücklich. Ich war glücklich in Schweizer Gefängnissen gewesen, weil es keine deutschen waren. Aber vor mir saß ja ein Mann, der behauptete, das Glück gepachtet zu haben, obschon irgendwo in Lissabon ein Holzsarg in einem ungelüfteten Zimmer stand.

„Als man mich das letztemal freiließ, drohte man mir, dass man mich nach Deutschland abschieben müsse, wenn man mich noch einmal ohne Papiere erwische“, erklärte Schwarz. „Es war nur eine Drohung; aber sie erschreckte mich. Ich fing an nachzu denken, was ich tun müsste, wenn es wirklich geschähe. Dann begann ich nachts zu träumen, ich wäre drüben und die SS wäre hinter mir her. Ich träumte es so oft, dass ich mich schließlich fürchtete einzuschlafen. Kennen Sie das auch?“

„Ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben,“ erwiderte ich. „Leider.“

„Eines Nachts träumte ich, dass ich in Osnabrück wäre, der Stadt, wo ich gelebt hatte und wo meine Frau noch wohnte. Ich stand in ihrem Zimmer und sah, dass sie krank war. Sie war sehr mager und weinte. Ich wachte verstört auf. Ich hatte sie über fünf Jahre nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Ich hatte ihr auch nie geschrieben, weil ich nicht wusste, ob ihre Post überwacht würde. Vor der Flucht hatte sie mir versprochen, sich von mir scheiden zu lassen. Es sollte ihr Schwierigkeiten ersparen. Einige Jahre glaubte ich auch, sie hätte es getan.“

Schwarz schwieg eine Weile. Ich fragte ihn nicht, weshalb er Deutschland verlassen hatte. Es gab dafür genug Gründe. Keiner von ihnen war interessant, denn jeder war ungerecht. Ein Opfer zu sein ist nicht interes sant. Er war entweder Jude, oder er hatte einer politischen Partei angehört, die dem bestehenden Regime feindlich war, oder er hatte Feinde, die plötzlich einflussreich geworden waren – es gab Dutzende von Gründen, um in Deutschland in ein Konzentrationslager gesteckt oder totgeschlagen zu werden.

„Es gelang mir, wieder nach Paris zu kommen“, sagte Schwarz. „Aber der Traum verließ mich nicht. Er kam wieder. Um dieselbe Zeit zerbrach auch die Illusion des Münchner Paktes. Im Frühjahr wusste man, dass es bestimmt Krieg geben würde. Man roch ihn, wie man einen Brand riecht, lange bevor man ihn sieht. Nur die Diplomatie der Welt hielt sich hilflos die Augen zu und träumte Wunschträume – von einem zweiten und dritten München, von allem, aber nur keinem Krieg. Nie hat es soviel Glauben an Wunder gegeben wie in unserer Zeit, wo es keine mehr gibt.“

„Es gibt noch welche,“ erwiderte ich. „Sonst wären wir alle nicht mehr am Leben.“

Schwarz nickte. „Sie haben recht. Private Wunder. Ich habe selbst eines erlebt. Es begann in Paris. Ich erbte plötzlich einen gültigen Pass. Es ist der Pass, der auf den Namen Schwarz lautet. Er gehörte einem Österreicher, mit dem ich im Cafe de la Rose bekannt geworden war. Der Mann starb und hinterließ mir den Pass und sein Geld. Er war erst vor drei Monaten angekommen. Ich hatte ihn im Louvre* kennengelernt – vor den Bildern der Impressionisten*. Ich verbrachte damals viele Nachmittage dort, um mich zu beruhigen. Wenn man vor diesen sonnegetränkten, stillen Landschaften stand, glaubte man nicht, dass eine Tierrasse, die so etwas schaffen konnte, gleichzeitig einen mörderischen Krieg vorhaben könne – eine Illusion, die den Blutdruck für eine Stunde etwas senkte. Der Mann mit dem Pass auf den Namen Schwarz saß oft vor den Seerosen- und Kathedralenbildern von Monet. Wir kamen ins Gespräch, und er erzählte mir, dass es ihm gelungen sei, nach der Machtergreifung in Österreich freizukommen und das Land zu verlassen, indem er auf sein Vermögen verzichtete. Es hatte aus einer Sammlung von Impressionisten bestanden, die an den Staat gefallen war. Er bedauerte es nicht. Solange in Museen Bilder ausgestellt wären, könne er sie wie seine eigenen betrachten, sagte er, ohne die Sorge um Feuer und Diebstahl zu haben. Außerdem wären in den Museen in Frankreich viel bessere Bilder, als er je besessen hatte. Anstatt an seine eigene limitierte Sammlung gekettet zu sein wie ein Vater au seine Familie, mit der Verpflichtung, die Seinen zu bevorzugen und dadurch beeinflusst zu werden, gehörten ihm nun alle Bilder in öffentlichen Sammlungen, ohne dass er dafür etwas tun müsse. Er war ein sonderbarer Mann, still, sanft und heiter trotz allem, was hinter ihm lag. Er hatte fast kein Geld mitnehmen dürfen; aber er hatte eine Anzahl alter Briefmarken gerettet. Briefmarken sind das Kleinste, um es zu verstecken, besser als Diamanten. Auf Diamanten kann man schlecht gehen, wenn man sie in den Schuhen versteckt hat und zum Verhör geführt wird. Sie sind auch nicht ohne große Verluste und viele Fragen zu verkaufen. Briefmarken sind für Sammler. Sammler fragen nicht viel.“

„Wie hat er sie herausbekommen?“ fragte ich, mit dem professionellen Interesse jedes Emigranten.

„Er hat alte, belanglose, geöffnete Briefe mitgenommen und die Marken zwischen das Futter und den Umschlag gesteckt. Die Zollbeamten revidierten die Briefe, nicht die Umschläge.“ „Gut“, sagte ich.

„Er hatte außerdem noch zwei kleine Porträts von Ingres* mitgenommen. Bleistiftzeichnungen. Er hatte sie in breite Passepartouts* und geschmacklose Talmirahmen gesteckt und behauptet, es seien Porträts seiner Eltern. Hinter die Passepartouts hatte er zwei Degas-Zeichnungen so geklebt, dass sie nicht zu sehen waren.“

„Gut“, sagte ich wieder.

„Er bekam einen Herzanfall im April und gab mir seinen Pass, die Marken, die er noch hatte, und die Zeichnungen. Er gab mir auch die Adressen von Leuten, die die Marken kaufen würden. Als ich am nächsten Morgen nach ihm sah, lag er tot in seinem Bett, und ich erkannte ihn kaum, so verändert hatte die Stille ihn. Ich nahm das Geld, das er noch besaß, und einen Anzug und etwas Wäsche mit mir. Er hatte mir am Tage vorher gesagt, es zu tun; es sei besser, Schicksalsgenossen bekämen es, als der Wirt.“

„Sie haben den Pass geändert?“ fragte ich. „Nur das Photo und das Geburtsjahr. Schwarz war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Unsere Vornamen waren gleich.“

„Wer hat es gemacht? Brünner?“

„Jemand aus München.“

„Das war Brünner, der Passdoktor, Er war sehr tüchtig.“

Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen. Er hatte manchem geholfen, besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefasst wurde, weil er abergläubisch war; er glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte. Vor der Emig ration hatte er eine kleine Druckerei in München gehabt.

„Wo ist er jetzt?“ fragte ich.

„Ist er nicht in Lissabon?“

Ich wusste es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.

* * *

„Es war merkwürdig, als ich den Pass hatte“, sagte Schwarz II. „Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Elysees*und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; – mit scharfer Stimme: „Schwarz!“, um sofort aufzuspringen und zu antworten: „Das bin ich!“ —, oder ich schnarrte, „Name!“ um sofort automatisch daherzuleiern: „Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898.“ Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Pass oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.

Ich verkaufte die beiden Ingres-Zeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.

Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Pass nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte…“

Schwarz sah mich an. „Sie kennen das ja sicher! Den Emigranten-Koller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde ge stampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!

Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie frü her zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissaros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum – aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr – sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern – an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen grünen Kirchtürme – und an meine Frau.

Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man so zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt – eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, dass Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermissten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern. Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzukla gen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland musste siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuss umgelegt werden, wenn ich Glück hatte? Der Pass, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, dass ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller*: ich hörte sie vom Hinterhof des Hotels um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Cafe de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte – bleich, mit trostlosen Augen – und dann wegglitt. Es war so deutlich, dass ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.

Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: dass sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlusslichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.

Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau* gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. „Finden Sie eine Frau“, sagte er.

Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen lässt mit dem schalen Geschmack, dass man sich missbraucht hat?

Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich musste zurück. Ich musste meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, dass sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich musste sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.

Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, dass Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland*, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg musste kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich musste mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wusste ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrükte tun.

Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkünde ten für jeden, der sie lesen konnte.

Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Pass auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.

Der Mann sah den Pass an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, dass er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Pass zurück.

„Sie haben vergessen, ihn zu stempeln“, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch.

Der Beamte lächelte. „Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?“

„Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.“

Der Mann stempelte den Pass und ging. Ich biss mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, dass der Pass mit dem Stempel schon etwas echter aussah.

* * *

In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wusste auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloss trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.

In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Cafe Greif – dem Gegenstück zum Cafe de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, dass es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, musste ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?

Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, dass ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?

Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wusste sofort, dass einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Pass wurde misstrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, dass der Pass gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, dass ich legal eingereist und „erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten, vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?“

Ich nickte. „Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muss. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zuwenig Zeit dazu. Zuwenig Ruhe.“

Schwarz schüttelte den Kopf. „Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt,“ „Konnten Sie es halten?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht,“ erwiderte Schwarz langsam. „Das ist es ja, was ich herausfinden muss. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still erst, wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?“

Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erste Mal, dass er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.

„Ich habe es nie gekannt“, sagte ich. „Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?“

Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter. „Darling, warum müssen wir zurück?“ sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking. „Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.“

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