Als Rileys Handy klingelte, hallte Blaines letzter Schuss noch in ihren Ohren. Widerwillig griff sie nach ihrem Handy. Sie hatte gehofft, einen Morgen nur für Blaine und sich zu haben. Als sie auf das Telefon schaute, wusste sie, dass sie enttäuscht werden würde. Der Anruf kam von Brent Meredith.
Es hatte sie überrascht, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte, Blaine das Schießen mit seiner neuen Pistole beizubringen. Was auch immer Meredith von ihr wollte, Riley war sich sicher, dass es den besten Tag, den sie seit Langem gehabt hatte, unterbrechen würde.
Doch sie hatte keine Wahl, sie musste den Anruf annehmen.
Wie immer war Meredith kurz angebunden und kam sofort zur Sache.
„Es gibt einen neuen Fall. Wir brauchen Sie. Wie schnell können Sie in Quantico sein?”
Riley unterdrückte ein Seufzen. Jetzt da Bill beurlaubt war, hatte Riley gehofft, dass auch sie einige Zeit frei hätte, bis dass der Schmerz über Lucys Tod ein wenig abgeklungen wäre.
Kein Glück, dachte sie.
Ohne Zweifel würde sie bald die Stadt verlassen. Hatte sie genug Zeit, nach hause zu rennen, alle noch einmal zu sehen und sich umzuziehen?
„Wie wäre es mit in einer Stunde?” fragte Riley.
„Sein Sie schneller. Kommen Sie in mein Büro. Und bringen Sie Ihre Notausrüstung mit.”
Meredith beendete den Anruf, ohne auf Antwort zu warten.
Blaine stand dort und wartete auf Sie. Er zog seine Augen- und Ohrenschutzkleidung ab und fragte, „Hat es mit der Arbeit zu tun?”
Riley seufzte laut.
„Ja, ich muss sofort nach Quantico.”
Blaine nickte ohne sich zu beschweren und entlud die Pistole.
„Ich fahr dich hin”, sagte er.
„Nein, ich brauche meine Notausrüstung. Die ist zuhause in meinem Auto. Ich fürchte, du musst mich bei mir zuhause absetzen. Leider haben wir es eilig.”
„Kein Problem”, sagte Blaine, und verstaute seine neue Waffe vorsichtig im Koffer.
Riley küsste ihn auf die Wange.
„Es klingt danach, als müsse ich die Stadt verlassen”, sagte sie. „Das gefällt mir gar nicht. Ich hatte so eine wundervolle Zeit.”
Blaine lächelte und küsste sie zurück.
„Ich hatte auch eine wundervolle Zeit mit dir”, sagte er. „Mach dir keine Sorgen. Wenn du wiederkommst, machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben.”
Als sie den Schießplatz verließen und durch den Waffenladen nach draußen gingen, verabschiedete sich der Besitzer herzlich von ihnen.
*
Nachdem Blaine sie vor ihrem Haus abgesetzt hatte, eilte Riley hinein, um allen mitzuteilen, dass sie für eine Weile weg müsste. Sie hatte nicht einmal Zeit, sich umzuziehen, doch zumindest hatte sie am Morgen bei Blaine zuhause geduscht. Sie war erleichtert, dass ihre Familie die plötzliche Planänderung gelassen zu sehen schien.
Sie gewöhnen sich daran, ohne mich klarzukommen, dachte sie. Sie war nicht sicher, ob ihr dieses Szenario gefiel, sich wusste sie, dass es in Anbetracht ihrer Lebensumstände notwendig war.
Riley überprüfte, ob alles, was sie brauchen würde, in ihrem Auto war und machte sich dann auf den kurzen Weg nach Quantico. Als sie das BAU Gebäude erreichte, lief sie schnurstracks zu Brent Merediths Büro. Zu ihrer Bestürzung begegnete sie Jenn Roston, die in derselben Richtung den Flur entlang ging. Rileys und Jenns Augen trafen sich für einen kurzen Moment, dann eilten beide ohne ein Wort zu sagen weiter. Riley fragte sich, on Jenn sich genauso unwohl fühlte wie sie es that. Erst gestern hatten sie ein unangenehmes Zusammentreffen gehabt und Riley war sich nach wie vor unsicher, ob sie nicht einen furchtbaren Fehler begangen hatte, als sie Jenn den USB Stick gegeben hatte.
Doch Jenn machte sich darüber wahrscheinlich keine Gedanken, schloss Riley.
Schließlich hatte Jenn gestern die Oberhand behalten. Sie hatte die Situation geschickt für ihre eigenen Zwecke genutzt. Hatte Riley je zuvor jemanden gekannt, der es verstanden hatte, sie so zu manipulieren?
Schnell wurde ihr klar—natürlich gab es da jemanden.
Diese Person war Shane Hatcher.
Ohne anzuhalten und den Blick weiterhin zielstrebig nach vorne gerichtet, sprach die jüngere Agentin leise. „Es ist nichts dabei herausgekommen.”
„Was?” fragte Riley, ohne ihren eigenen Schritt zu verlangsamen.
„Die Finanzauskünfte auf dem USB Stick. Hatcher hatte Beträge auf diesen Konten gelagert. Doch das Geld wurde abgehoben und die Konten wurden geschlossen.”
Riley widerstand den Impuls, „Ich weiß” zu sagen.
Immerhin hatte ihr Hatcher das gestern schon in seiner Drohnachricht mitgeteilt. Für einen Moment wusste Riley nicht, was sie sagen sollte. Sie lief weiter, ohne zu antworten.
Dachte Jenn, dass Riley sie hintergangen hätte, indem sie ihr eine falsche Datei hatte zukommen lassen?
Endlich sagte Riley: „Die Datei ist alles, was ich habe. Ich halte nichts vor dir zurück.”
Jenn antwortete nicht. Riley wünschte, sie hätte eine Ahnung, ob sie ihr glaubte.
Sie fragte sich auch—hätte sie diese Information früher zur Nutzung freigegeben, säße Hatcher heute hinter Gittern? Wäre er gar tot?
Als sie die Tür zu Merediths Büro erreichten, hielt Riley an, und Jenn tat es ihr gleich. Riley fühlte sich leicht alarmiert.
Jenn wollte offensichtlich auch zu Meredith.
Warum war die neue Agentin bei diesem Meeting dabei? Hatte sie Meredith darüber informiert, dass Riley Informationen zurückgehalten hatte?
Doch Jenn stand bloß da und schaute sie immer noch nicht an.
Riley klopfte an Merediths Tür und sie und Jenn traten ein.
Direktor Meredith saß hinter seinem Schreibtisch und sah, wie immer, einschüchternd aus.
„Setzen Sie sich, beide”, sagte er.
Riley und Jenn setzen sich gehorsam auf die Stühle vor seinem Schreibtisch.
Meredith war einen Moment lang still.
Dann sagte er: „Agentin Paige, Agentin Roston—Ich möchte Ihnen jeweils Ihre neue Partnerin vorstellen.”
Riley unterdrückte ein Schlucken. Sie blickte zu Jenn Roston, deren dunkelbraune Augen sich bei der Neuigkeit geleitet hatten.
„Das sollte besser kein Problem sein”, sagte Meredith. „Bei der BAU sind wir gerade mit Fällen überlastet. Jetzt, da Agent Jeffrey beurlaubt ist und alle anderen im Einsatz sind, bekommen sie einander. Betrachten Sie es als abgemacht.”
Riley stellte fest, dass Meredith recht hatte. Der einzige andere Agent mit dem sie gerade wirklich arbeiten wollen würde, war Craig Huang, doch der war damit beschäftigt, ihr Haus zu überwachen.
„Das geht in Ordnung, Herr Direktor”, sagte Riley zu Meredith.
„Es wäre mir eine Ehre mit Agentin Paige zusammenzuarbeiten, Herr Direktor.” sagte Jenn.
Diese Worte überraschten Riley ein wenig. Sie fragte sich, ob Jenn sie wirklich ernst meinte.
„Freuen Sie sich nicht zu sehr”, sagte er. „Dieser Fall wird vermutlich nicht viel ergeben. Gerade erst heute Morgen wurde die vergrabene Leiche eines Mädchens im Teenage-Alter auf einem Stück Farmland in der Nähe von Angier, einer kleinen Stadt in Iowa, gefunden.”
„Ein einzelner Mord?” fragte Jenn.
„Warum soll sich die BAU mit dem Fall befassen?” fragte Riley.
Meredith trommelte mit seinen Fingern auf den Schreibtisch.
„Meine Vermutung ist, dass es uns nicht wirklich betrifft”, sagte er. „Doch ein weiteres Mädchen ist zu einem früheren Zeitpunkt aus der selben Stadt verschwunden, und man hat sie immer noch nicht gefunden. Es handelt sich um eine überschaubare und ruhige Gegend, und solche Dinge passieren dort einfach nicht. Die Leute sagen, dass beide Mädchen nicht der Typ gewesen wären, der einfach abhaut oder mit Fremden mitgeht.”
Riley schüttelte zweifelnd ihren Kopf.
„Also, was gibt es denn konkret, das einen glauben machen könnte, es handle sich um eine Mordserie?“ fragte sie. „Ist das ohne eine weitere Leiche nicht ein bisschen voreilig?”
Meredith zuckte mit den Achseln.
„Ja, so sehe ich das auch. Doch der Polizeidirektor in Angier, Joseph Sinard, ist darüber in Panik geraten.”
Rileys kräuselte sich beim Klang des Namens.
„Sinard”, sagte sie. „Wo habe ich den Namen bloß schon einmal gehört?”
Meredith lächelte leicht und sagte, „Vielleicht denken Sie an den stellvertretenden Geschäftsführer des FBI, Forrest Sinard. Joe Sinard ist sein Bruder.”
Riley hätte beinahe mit den Augen gerollt. Nun ergab alles Sinn. Eine Person, die in der FBI Nahrungskette weit oben stand, wurde von einem Verwandten vom Land gepeinigt, so dass der Fall dem BAU aufgebürdet worden war. Sie hatte sich früher schon mit politisch motivierten Untersuchungen, wie dieser, befassen müssen.
Meredith sagte: „Ihr zwei müsst dort hinfahren und nachschauen, ob es überhaupt einen Fall gibt, in dem es sich zu ermitteln lohnt.”
„Was ist mit meiner Arbeit an dem Hatcher Fall?”, fragte Jenn Roston.
Meredith sagte, „Daran arbeiten eine Menge Menschen—Techniker und and Faktenermittler und so weiter. Ich nehme an, dass sie Zugang zu allen Ihren Informationen haben.”
Jenn nickte.
Meredith sagte: „Für ein paar Tage können die ruhig auf Sie verzichten. Sollte das hier überhaupt solange dauern.”
Riley hatte ausgesprochen gemischte Gefühle. Abgesehen davon, dass sie nicht sicher war, ob sie mit Jenn Roston arbeiten wollte, war sie nicht darauf erpicht, ihre Zeit mit einem Fall zu verschwende, der vermutlich die Hilfe des BAUs gar nicht benötigte.
Viel lieber hülfe sie Blaine dabei, zu lernen, wie man schießt.
Es gäbe auch noch andere Dinge, die ich mit Blaine anstellen könnte, dachte sie und unterdrückte ein Lächeln.
„Also, wann geht es los?” fragte Jenn.
„So früh wie möglich”, sagte Meredith. „Ich habe Direktir Sinard gebeten, die Leiche bis zu Ihrer Ankunft nicht zu bewegen. Sie fliegen nach Des Moines, wo Kommissar Sinards Leute euch abholen und nach Angier fahren werden. Von Des Moines ist es etwa eine Stunde entfernt. Wir müssen das Flugzeug auftanken und startbereit machen. Entfernen Sie sich in der Zwischenzeit nicht zu weit von hier. Der Start soll in weniger als zwei Stunden sein.”
Riley und Jenn verließen left Merediths Büro. Riley lief geradewegs zu ihrem Büro, setzte sich für einen Moment hin und schaute ziellos umher.
Des Moines, dachte sie.
Sie war nur ein paar Mal dort gewesen, doch ihre ältere Schwester Wendy lebte dort. Riley und Wendy hatten sich über die jähre voneinander entfremdet und im letzten Herbst anlässlich des Todes ihres Vaters Kontakt aufgenommen. Wendy, nicht Riley, war bei Vati gewesen als er starb.
An Wendy zu denken, erweckte in ihr Schuldgefühle sowie andere verstörende Erinnerungen. Vati war mit Rileys Schwester sehr streng gewesen, und Wendy war mit fünfzehn von zuhause weggelaufen. Riley war erst fünf gewesen. Nachdem ihr Vater gestorben war, hatten sie sich geschworen, den Kontakt zu halten, doch bislang hatten sie nur einmal per Videochat miteinander gesprochen.
Riley wusste, dass sie Wendy besuchen sollte, wenn sie die Chance schon einmal hatte. Natürlich nicht sofort. Meredith hatte gesagt, dass Angier eine Stunde von Des Moines entfernt lag, und dass die örtliche Polizei sie am Flughafen abholen würde.
Vielleicht kann ich Wendy sehen, bevor ich zurück nach Quantico fahre, dachte sie.
Jetzt gerade hatte sie ein wenig Zeit zu überbrücken, bevor das BAU Flugzeug abhob.
Und es gab jemanden, den sie sehen wollte.
Sie machte sich Sorgen um ihren langjährigen Partner, Bill Jeffreys. Er wohnte in der Nähe der Basis, doch hatte sie ihn seit mehreren Tagen nicht gesehen. Bill litt an PTBS und Riley wusste aus eigener Erfahrung wie schwer es war, sich davon zu erholen.
Sie nahm ihr Handy und tippte eine Nachricht.
Dachte, ich könnte für ein paar Minuten vorbeischauen. Biste zuhause?
Sie wartete einige Augenblicke. Die Nachricht war als „angekommen”, doch nicht gelesen gekennzeichnet.
Riley seufzte ein wenig. Sie hatte keine Zeit darauf zu warten, dass Bill seine Nachrichten abrief. Wenn sie ihn vor ihrer Abfahrt noch sehen wollte, musste sie jetzt vorbeischauen und hoffen, dass er zuhause war.
*
Vom BAU Gebäude bis zu Bills kleiner Wohnung in Quantico Stadt waren es nur wenige Minuten Fahrt. Als sie ihr Auto parkte und auf das Gebäude zu ging, fiel ihr einmal mehr auf, was für ein deprimierender Ort es war.
Für ein Mehrfamilienhaus gab es eigentlich nichts wirklich daran auszusetzen––es war ein normales rotes Backsteingebäude, kein Mietshaus oder irgendetwas vergleichbares.
Doch Riley konnte nicht anders, als sich an das schöne Haus in einem Vorort zu erinnern, in dem Bill bis zu seiner Scheidung gelebt hatte. Im Vergleich dazu besaß dieser Ort keinen Charme, und Bill lebte jetzt allein.
Riley betrat das Gebäude und lief auf direktem Weg zu Bills Wohnung im zweiten Stock. Sie klopfte an die Tür und wartete.
Alles blieb still. Sie klopfte erneut und bekam immer noch keine Antwort. Sie kramte ihr Handy hervor und sah, dass die Nachricht immer noch nicht gelesen wurde.
Sie fühlte, wie sie die Sorge überkam. War Bill etwas passiert?
Sie griff nach dem Türknopf und drehte ihn. Beunruhigt bemerkte sie, dass die Tür nicht verschlossen war und sich öffnete.
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