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KAPITEL FÜNF

Als sie Hailey Lizbrooks Apartment betrat, war Mackenzie überrascht, es war nicht das, was sie erwartet hatte. Es war sauber und aufgeräumt, die Möbel passten gut zusammen und abgestaubt. Die Dekoration passte zu der einer sehr häuslichen Frau, wovon beispielsweise die mit süßen Sprüchen beschrifteten Kaffeetassen und -becher zeugten, die an verzierten Haken über dem Kamin hangen. Es war eindeutig, dass sie alles fest im Griff gehabt hatte, sogar die Frisuren und Schlafanzüge ihrer beiden Söhne.

Es war wie die Familie und das Zuhause, die sie sich immer gewünscht hatte.

Mackenzie erinnerte sich daran, in den Akten gelesen zu haben, dass die Jungen neun und fünfzehn Jahre alt waren; der ältere hieß Kein und der jüngere Dalton. Als sie die beiden kennenlernte, konnte sie deutlich sehen, dass Dalton viel geweint hatte, denn seine blauen Augen waren von roten Flecken umrahmt.

Kevin schien jedoch vor allem wütend zu sein. Das zeigte sich deutlich, als sie sich hinsetzten und Porter die Führung übernahm und dieser mit einem Tonfall sprach, der gleichzeitig herablassend war und an einen übereifrigen Vorschullehrer erinnerte. Mackenzie zuckte bei Porters Worten innerlich zusammen.

„Ich würde gerne wissen, ob eure Mutter irgendwelche männlichen Freunde hatte“, sagte Porter.

Er stand in der Mitte des Raumes, während die beiden Jungen auf dem Wohnzimmersofa saßen. Haileys Schwester Jennifer stand in der angrenzenden Küche, wo sie am Herd bei laufender Dunstabzugshaube eine Zigarette rauchte.

„Sie meinen, einen festen Freund?“, fragte Dalton.

„Zum Beispiel“, antwortete Porter. „Aber nicht nur das. Ich meine jeden Mann, mit dem sie mehrmals gesprochen hat. Dazu kann sogar der Postbote oder jemand aus dem Supermarkt gehören.“

Die beiden Jungen starrten Porter an, als ob er jeden Moment einen magischen Trick aufführen oder sogar platzen würde. Mackenzie tat das gleiche. Sie hatte ihn noch nie mit solch einer sanften Stimme reden gehört. Es war schon fast amüsant, solch einen zarten Tonfall aus seinem Mund zu hören.

„Nein, ich glaube nicht“, sagte Dalton.

„Nein“, stimmte Kevin zu. „Und sie hatte auch keinen festen Freund. Zumindest habe ich davon nichts mitbekommen.“

Mackenzie und Porter schauten zu Jennifer, die immer noch am Herd stand, doch bekamen lediglich ein Schulterzucken als Antwort. Mackenzie war sich ziemlich sicher, dass Jennifer unter einer Art Schock litt. Deshalb fragte sie sich, ob es vielleicht noch weitere Familienmitglieder gab, die sich für eine Weile um die Kinder kümmern konnten, da Jessica im Moment nicht dazu in der Lage schien.

„Wie schaut es mit den Menschen aus, mit denen ihr und eure Mutter euch nicht verstanden habt?“, fragte Porter. „Habt ihr sie je mit jemandem streiten hören?“

Dalton schüttelte den Kopf. Mackenzie war sich sicher, dass das Kind erneut kurz vor einem Tränenausbruch stand. Kevin rollte jedoch nur mit den Augen und schaute Porter direkt an.

„Nein“, entgegnete er. „Wie sind nicht dumm. Wir wissen, was Sie uns fragen wollen. Sie möchten wissen, ob wir uns vorstellen könnten, wer unsere Mutter umgebracht hat, nicht wahr?“

Porter sah aus, als hätte er einen Schlag in den Bauch bekommen. Sein Blick huschte nervös zu Mackenzie, doch er fing sich schnell wieder.

„Also, ja“, meinte er. „Darauf wollte ich hinaus. Aber es scheint, dass ihr keine nützlichen Informationen habt.“

„Das denken Sie also?“, erwiderte Kevin.

In einem kurzen, angespannten Moment war sich Mackenzie sicher, dass Porter mit dem Kind grob werden würde. Kevin schaute Porter mit Schmerz in seinem Gesicht an, fast so, als ob er ihn herausfordern würde.

„Nun denn“, sagte Porter. „Ich habe euch Jungs genug gestört. Danke für eure Zeit.“

„Einen Moment noch“, warf Mackenzie ein, bevor sie sich stoppen konnte.

Porter warf ihr einen Blick zu, der Wachs hätte schmelzen können. Es war eindeutig, dass er es für Zeitverschwendung hielt, mit diesen trauernden Jungen zu reden – vor allem mit einem Fünfzehnjährigen, der offensichtlich Autoritätsprobleme hatte. Mackenzie ließ seinen Gesichtsausdruck an ihr abprallen und kniete sich hin, damit sie auf Daltons Augenhöhe war.

„Hör zu, könntest du für einen Moment zu deiner Tante in die Küche gehen?“

„Ja“, erwiderte Dalton leise mit zittriger Stimme.

„Detective Porter, warum begleiten Sie ihn nicht?“

Wieder warf ihr Porter einen hasserfüllten Blick zu, den Mackenzie jedoch ohne mit der Wimper zu zucken erwiderte. Ihr Gesicht verhärtete sich, sie war fest entschlossen, sich hier durchzusetzen. Wenn er darüber diskutieren wollte, dann würden sie es draußen tun. Aber es war offensichtlich, dass er sich sogar in der Anwesenheit von zwei Kindern und einer katatonischen Frau nicht peinlich machen wollte.

„Natürlich“, antwortete er schließlich mit zusammengebissenen Zähnen.

Mackenzie wartete einen Moment, während Porter und Dalton in die Küche gingen.

Mackenzie stand wieder auf. Sie wusste, dass die Taktik, sich auf die gleiche Augenhöhe wie die Kinder zu begeben, ihre Wirkung verlor, wenn diese älter als zwölf waren.

Sie schaute Kevin an und stellte fest, dass dieselbe Trotzhaltung, die er Porter gegenüber gezeigt hatte, immer noch da war. Mackenzie hatte nichts gegen Teenager, aber sie wusste, dass sie im Umgang schwer sein konnten – vor allem im Angesicht tragischer Umstände. Doch sie hatte gesehen, wie Kevin auf Porter reagiert hatte und dachte, dass sie vielleicht zu ihm durchdringen konnte.

„Spreche mit mir, Kevin“, sagte sie. „Glaubst du, dass wir zu bald gekommen sind? Glaubst du, dass es gefühllos von uns war, euch zu befragen, so kurz nachdem ihr die Neuigkeiten über eure Mutter erfahren habt?“

„Ein bisschen“, sagte er.

„Bist du jetzt einfach nur nicht in der Stimmung, zu reden?“

„Nein, damit habe ich kein Problem“, meinte er. „Aber der Kerl ist ein Idiot.“

Mackenzie wusste, dass das ihre Chance war. Sie könnte professionell und formell an die Sache herangehen, wie sie es auch normalerweise tun würde – oder sie könnte diese Gelegenheit nutzen, um eine Beziehung zu dem wütenden Teenager aufzubauen. Jugendliche, das wusste sie, schätzten vor allem Ehrlichkeit. Sie konnten, getrieben durch Gefühle, alle Lügen durchschauen.

„Da hast du Recht“, entgegnete sie. „Er ist ein Idiot.“

Kevin starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ihn geschockt, offensichtlicherweise hatte er nicht mit dieser Antwort gerechnet.

„Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich mit ihm arbeiten muss“, fügte sie hinzu, ihre Stimme war voller Mitgefühl und Verständnis. „Es ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir hier sind, um euch zu helfen. Wir wollen denjenigen finden, der eurer Mutter das angetan hatte. Willst du das denn nicht auch?“

Lange Zeit war er still, dann nickte er schließlich.

„Denkst du, du könntest dann mit mir reden?“, fragte Mackenzie. „Es sind nur ein paar schnelle Fragen, dann sind wir hier weg.“

„Und wer kommt danach?“, wollte Kevin etwas reserviert wissen.

„Willst du eine ehrliche Antwort?“

Kevin nickte und sie sah, dass er den Tränen nahe war. Sie fragte sich, ob er sie die ganze Zeit lang zurückgehalten und versucht hatte, für seinen Bruder und seine Tante stark zu sein.

„Also, wenn wir weg sind, werden wir alle Informationen zusammentragen, die wir finden können. Anschließend kommt das Sozialamt und wird sicherstellen, dass Jennifer in der Lage ist, sich um euch zu kümmern, während die Sache mit deiner Mutter abgeschlossen wird.“

„Meistens ist sie cool“, meinte Kevin, während er Jennifer ansah. „Aber sie und meine Mutter standen sich sehr nahe. Sie waren wie beste Freundinnen.“

„Das sind Schwestern manchmal“, erwiderte Mackenzie, doch sie hatte keine Ahnung, ob das stimmte. „Aber für jetzt ist es wichtig, dass wir uns auf meine Fragen konzentrieren. Kannst du das?“

„Ja.“

„Gut. Ich stelle die Frage nur ungern, aber sie ist notwendig. Weißt du, als was deine Mutter arbeitete?“

Kevin nickte und senkte den Blick zu Boden.

„Ja“, antwortete er. „Und ich weiß zwar nicht woher, aber die Kinder in der Schule wissen es auch. Ein notgeiler Vater von ihnen ist wahrscheinlich in den Club gegangen und hat sie von einer Schulveranstaltung oder so erkannt. Es ist schrecklich. Ich wurde deshalb immer aufgezogen.“

Mackenzie konnte sich gar nicht vorstellen, wie sehr er gelitten haben musste, aber es erhöhte auch ihre Achtung vor Hailey Lizbrook um einiges. Natürlich arbeitete sie nachts als Stripperin, aber tagsüber war sie anscheinend eine fürsorgliche Mutter gewesen.

„Okay“, sagte Mackenzie, „da du ihren Beruf kennst, kannst du dir vorstellen, welche Art Männer solche Orte besuchen, nicht wahr?“

Kevin nickte und Mackenzie sah, wie die erste Träne über seine linke Wange rollte. Fast schon wollte sie ihre Hand ausstrecken und die seine nehmen, um ihm Trost zu spenden, aber sie wollte ihn nicht noch mehr quälen.

„Fällt dir ein, ob deine Mutter einmal wirklich wütend oder aufgebracht über etwas war, oder ob irgendwelche Männer…nun ja, ob welche vielleicht mit ihr nach Hause kamen?“

„Sie hat nie jemanden mitgebracht“, entgegnete er. „Und ich habe Mom fast nie wütend oder verärgert gesehen. Nur einmal war sie wegen etwas wirklich aufgebracht, nämlich als sie letztes Jahr mit den Anwälten sprach.“

„Anwälte?“, fragte Mackenzie nach. „Weißt du, warum sie mit den Anwälten gesprochen hat?“

„So in etwa. Ich weiß, dass eines nachts einmal etwas auf der Arbeit geschah, weshalb sie sich an ein paar Anwälte wandte. Ich hörte ein paar Brocken, wenn sie telefonierte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mit ihnen über eine einstweilige Verfügung gesprochen hat.“

„Und du denkst, dass das mit ihrer Arbeit zu tun hatte?“

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Kevin. Er schien ein bisschen heiterer zu sein, jetzt, da er ihr anscheinend helfen konnte. „Aber ich gehe davon aus.“

„Das ist eine große Hilfe, Kevin“, sagte Mackenzie. „Fällt dir sonst noch etwas ein?“

Er schüttelte langsam den Kopf und schaute dann in ihre Augen. Er wollte stark bleiben, doch in den Augen des Jungen lag so viel Traurigkeit, dass Mackenzie nicht verstehen konnte, warum er noch nicht zerbrochen war.

„Mom schämte sich dafür, wissen Sie?“, meinte Kevin. „Tagsüber arbeitete sie von Zuhause aus. Sie war eine Art technische Schreiberin für Webseiten und solche Sachen. Aber ich glaube nicht, dass sie damit viel Geld verdiente. Sie tat das andere, um mehr Geld zu verdienen, weil unser Vater…nun ja, er trennte sich vor langer Zeit. Er schickt auch kein Geld mehr. Deshalb musst Mom…diese andere Arbeit annehmen. Sie tat es für mich und Dalton und…“

„Ich weiß“, entgegnete Mackenzie und diesmal streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Sie legte sie auf seine Schulter, wofür er dankbar schien. Sie konnte auch erkennen, dass er seinen Tränen gerne freien Lauf lassen würde, was er sich aber wahrscheinlich vor fremden Menschen nicht erlauben würde.

„Detective Porter“, rief Mackenzie und er trat mit finsterem Blick aus der Küche. „Haben Sie noch weitere Fragen?“ Bei der Frage schüttelte sie leicht mit dem Kopf, in der Hoffnung, dass er den Hinweis erkennen würde.

„Nein, ich glaube, wir sind hier fertig“, antwortete er.

„Okay“, erwiderte Mackenzie. „Nochmal danke für eure Zeit.“

„Ja, danke“, sagte Porter, als er zu Mackenzie ins Wohnzimmer kam. „Jennifer, Sie haben meine Nummer, zögern Sie also nicht, uns anzurufen, wenn Ihnen etwas einfällt, von dem Sie denken, dass es uns helfen könnte. Sogar das kleinste Detail kann hilfreich sein.“

Jennifer nickte und krächzte: „Danke.“

Mackenzie und Porter gingen hinaus und ein paar hölzerne Treppe zum Parkplatz des Wohnkomplexes hinunter. Als sie ein gutes Stück von der Wohnung entfernt waren, verringerte Mackenzie den Abstand zwischen den beiden. Sie konnte seine Wut wie Hitze neben sich spüren, was sie jedoch ignorierte.

„Ich habe eine Spur“, meinte sie. „Kevin erzählte mir, dass seine Mutter letztes Jahr eine einstweilige Verfügung gegen jemanden auf der Arbeit erwirken wollte. Er sagte, dass er sie nur dieses einzige Mal wütend über etwas erlebt hatte.“

„Gut“, erwiderte Porter. „Dann ist wenigstens etwas Brauchbares bei Ihrer Untergrabung meiner Autorität herausgekommen.“

„Ich habe sie nicht untergraben“, widersprach Mackenzie. „Ich sah einfach nur, wie sich ein Konflikt zwischen Ihnen und dem ältesten Sohn aufbaute, weshalb ich einschritt, um die Situation zu lösen.“

„So ein Müll“, entgegnete Porter. „Sie haben mich vor den Kindern und ihrer Tante schwach und untergeordnet aussehen lassen.“

„Das ist nicht wahr“, wandte Mackenzie ein. „Und selbst wenn es so wäre, was wäre denn schon dabei? Sie haben mit den Kindern wie mit einem Haufen Idioten gesprochen, der kaum Englisch verstehet.“

„Ihr Verhalten war ein eindeutiges Zeichen von fehlendem Respekt“, konterte Porter. „Ich erinnere Sie daran, dass ich diesen Job schon länger mache als Sie am Leben sind. Wenn ich Ihre Hilfe brauche, dann bestimme ich das, verdammt nochmal.“

„Sie waren fertig, Porter“, erwiderte sie. „Das Gespräch war zu Ende, wissen Sie nicht mehr? Und es gab nichts mehr zu untergraben. Sie wollten schon weggehen. Das war Ihre Meinung und zwar die falsche.“

Sie hatten das Auto erreicht und als Porter es aufschloss, brannten seine Augen über das Dach hinweg in die von Mackenzie.

„Wenn wir zurück auf der Polizeiwache sind, werde ich bei Nelson einen Antrag stellen, Sie einem anderen Polizisten zuzuweisen. Ich habe genug von Ihrem mangelnden Respekt.“

„Mangelnder Respekt“, wiederholte Mackenzie mit einem Kopfschütteln. „Sie wissen ja nicht einmal, was das Wort bedeutet. Warum fangen Sie nicht einmal damit an, Ihr Verhalten mir gegenüber unter die Lupe zu nehmen?“

Porter atmete zitternd aus und stieg ohne ein weiteres Wort in das Auto. Entschlossen, sich nicht von Porters schlechter Stimmung beeinflussen zu lassen, stieg Mackenzie ebenfalls ein. Sie schaute zur Wohnung zurück und fragte sich, ob Kevin seine Tränen mittlerweile zugelassen hatte. Wenn man das große Ganze sah, dann schien der Konflikt zwischen ihr und Porter unwichtig.

„Wollen Sie Bescheid sagen?“, fragte Porter, der ziemlich wütend war, dass sie ihn übergangen hatte.

„Ja“, antwortete sie und zog ihr Handy hervor. Als sie Nelsons Nummer wählte, konnte sie die Genugtuung nicht unterdrücken, die sich in ihr aufbaute. Vor einem Jahr war eine einstweilige Verfügung erlassen worden und jetzt war Hailey Lizbrook tot.

Wir haben den Bastard, dachte sie.

Aber gleichzeitig kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob es wirklich so einfach sein würde, diesen Fall abzuschließen.

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