Читать книгу «Bevor Er Sieht» онлайн полностью📖 — Блейка Пирс — MyBook.
image

Alles baute auf Geschwindigkeit und Präzision. Sie erledigte fünfzig Liegestützen so schnell, dass sie das Brennen in ihren Oberarmen erst bemerkte, als sie schon fertig war und sich zu dem schlammbeschmutzten Hindernislauf begab. Bei so gut wie jeder körperlichen Aktivität hatte sie die Einstellung entwickelt, dass sie sich selbst nicht weit genug herausforderte, wenn ihre Arme und Beine nicht zitterten und sich ihre Bauchmuskeln nicht wie Stücke geripptes Fleisch anfühlten.

In ihrer Einheit gab es sechzig Auszubildende und sie war eine von gerade einmal neun Frauen. Das machte ihr nichts aus, wahrscheinlich, weil sie durch ihre Zeit in Nebraska gelernt hatte, sich nicht um das Geschlecht der Menschen zu sorgen, mit denen sie arbeitete. Sie hielt einfach den Kopf gesenkt und erledigte die Aufgaben zu ihrem besten Können, welches, ohne angeben zu wollen, ziemlich bemerkenswert war.

Nachdem der Ausbilder die Zeit ihrer letzten Trainingseinheit gemessen hatte, einem zwei Meilen Lauf durch matschige Pfade und den Wald, löste sich die Klasse auf und jeder ging seiner Wege. Mackenzie setzte sich auf eine der Bänke am Rande der Laufbahn und streckte ihre Beine. Da sie an diesem Tag nichts mehr vorhatte und durch ihren Erfolg in der Hogan Alley immer noch voller Energie war, entschied sie sich dazu, noch einmal laufen zu gehen.

So ungern sie es auch zugab, sie war zu einem dieser Menschen geworden, denen es Spaß machte, joggen zu gehen.

Und auch wenn sie in nächster Zeit an keinem ausgeschriebenen Marathon teilnehmen würde, so hatte sie doch Gefallen an dieser Sportart gefunden. Neben den vorgeschriebenen Läufen, die zu ihrem Training gehörten, fand sie auch noch Zeit, auf den Waldwegen außerhalb des Campusgeländes, das sich sechs Meilen vom FBI Hauptquartier und etwa acht Meilen ihrer neuen Wohnung in Quantico befand, zu joggen.

Mit schweißgetränktem Top und rotem Gesicht beendete sie den Tag mit einem letzten Sprint über den Hindernisparcours, wobei sie die Hügel, die herumliegenden Stämme und die Netze ausließ. Dabei bemerkte sie, dass sie von zwei Männern beobachtet wurde –zwar nicht wie in einem lüsternen Tagtraum, aber trotzdem mit gewisser Bewunderung, die sie um ehrlich zu sein anspornte.

In Wirklichkeit würden ihr der ein oder andere lustvolle Blick nichts ausmachen. Ihr neuer, schlanker Körper, für den sie so hart gearbeitet hatte, verdiente es, geschätzt zu werden. Es kam ihr seltsam vor, sich in ihrer eigenen Haut so wohl zu fühlen, aber so langsam fand sie Gefallen daran. Sie wusste, dass es auch Harry Dougan gefiel, aber bisher hatte her noch nichts gesagt. Selbst wenn er dies tun würde, war sich Mackenzie nicht sicher, was sie ihm entgegnen würde.

Als ihr letzter Lauf (knapp unter zwei Meilen) beendet war, duschte sie im Trainingsgebäude und schnappte sich auf dem Weg nach draußen ein paar Kekse aus dem Automaten. Sie hatte den restlichen Tag frei, das bedeutete, dass sie vier Stunden lang tun und lassen konnte, was sie wollte, bevor sie sich im Fitnesscenter auf das Laufband begab. Das war eine kleine Routine, die sie sich angeeignet hatte, um den anderen immer einen Schritt voraus zu sein.

Was sollte sie mit dem restlichen Tag anstellen? Vielleicht könnte sie endlich fertig auspacken. In ihrer Wohnung standen immer noch sechs Kartons, deren Klebeband sie noch nicht einmal entfernt hatte. Das wäre eine gute Entscheidung. Aber sie fragte sich auch, was Harry heute Abend wohl tat, ob er an seiner Einladung zu einem Drink festhalten würde. Meinte er heute Abend oder an einem anderen Abend?

Und darüber hinaus fragte sie sich auch, was Agent Ellington wohl gerade tat.

Sie und Ellington hätten sich ein paar Mal schon fast getroffen, aber es hatte nie geklappt, was Mackenzies Meinung nach wahrscheinlich besser so war. Sie konnte gut damit leben, nie mehr an den peinlichen Zwischenfall erinnert zu werden, der in Nebraska geschehen war.

Während sie versuchte, sich zu entscheiden, was sie mit ihrem Nachmittag anstellen würde, lief sie zu ihrem Auto. Als sie den Schlüssel in die Tür steckte, sah sie ein bekanntes Gesicht vorbeijoggen. Der Jogger, eine weitere Agentin in Ausbildung namens Colby Stinson, sah sie an und lächelte. Sie joggte mit einer Energie zu Mackenzies Wagen, die Mackenzie zu dem Schluss kommen ließ, dass Colby gerade erst mit dem Laufen angefangen hatte und nicht schon am Ende war.

„Hallo“, sagte Colby. „Haben dich die anderen aus der Klasse zurückgelassen?“

„Nein. Ich habe ein Extratraining absolviert.“

„Natürlich hast du das.“

„Was soll das heißen?“, wollte Mackenzie wissen. Sie und Colby kannten sich recht gut, auch wenn sie sich nicht gerade als Freunde bezeichnen würde. Sie war sich nie sicher, wann Colby lustig sein oder sie provozieren wollte.

„Es heißt, dass du sehr ehrgeizig bist und immer mehr tust als von dir verlangt wird“, erklärte Colby.

„Ertappt.“

„Was hast du vor?“, fragte Colby. Dann deutete sie auf die Kekse in Mackenzies Hand. „Ist das etwa dein Mittagessen?“

„Ja“, erwiderte sie. „Erbärmlich, nicht wahr?“

„Nur ein wenig. Warum gehen wir nicht zusammen etwas essen? Pizza hört sich toll an.“

Auch Mackenzie hatte Hunger auf Pizza, doch sie hatte keine Lust auf Small Talk, vor allem nicht mit einer Frau, die sich zu sehr auf Tratsch konzentrierte. Aber auf der anderen Seite wusste sie auch, dass sie mehr in ihrem Leben als nur Training, Extratraining und die Einsamkeit in ihrem Apartment brauchte.

„Ja, warum nicht“, entgegnete Mackenzie.

Es war ein kleiner Sieg, sie verließ ihre Komfortzone und versuchte, an diesem neuen Ort, in diesem neuen Kapitel ihres Lebens Freunde zu finden. Doch mit jedem Schritt öffnete sich ihr eine neue Seite und sie konnte es kaum abwarten, diese auszufüllen.

*

Donnie’s Pizza Place war nur halbvoll, als Mackenzie und Colby am Nachmittag eintraten, da die Mittagskundschaft so langsam wieder aufbrach. Sie setzten sich an einen Tisch im hinteren Bereich des Lokals und bestellten Pizza. Mackenzie ließ es zu, sich zu entspannen und ihre schmerzenden Arme und Beine auszuruhen, doch das würde sie nicht lange genießen können.

Colby rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne und seufzte. „Können wir bitte den Elefanten im Raum aus dem Weg schaffen?“

„Es gibt einen Elefanten?“, fragte Mackenzie.

„Ja“, erwiderte Colby. „Aber er ist ganz schwarz angezogen und passt sich die meiste Zeit gut an.“

„Okay“, meinte Mackenzie. „Dann erklär mir diesen Elefanten. Und sag mir, warum du ihn bis jetzt noch nicht erwähnt hast.“

„Ich habe dir nie gesagt, dass ich wusste, wer du warst, als du hier ankamst. Genau wie jeder andere. Es wurde viel darüber getuschelt. Und deshalb habe ich dir bis jetzt noch nichts gesagt. Doch jetzt, da unser Training so langsam zu Ende geht, weiß ich nicht, wie es die Dinge beeinflussen wird.“

„Was für ein Gerede?“, wollte Mackenzie wissen, obwohl sie sich schon ziemlich sicher war, dass sie wusste, in welche Richtung es ging.

„Nun ja, größtenteils geht um den Vogelscheuchen-Mörder und die bescheidene, kleine Frau, die ihn zur Strecke gebracht hat. Eine kleine Frau, die solch ein guter Detective in Nebraska war, dass sie vom FBI persönlich rekrutiert wurde.“

„Das ist zwar eine recht glorifizierte Version, aber ja…ich erkenne den Elefanten. Du hast gesagt, größtenteils. Gibt es denn noch mehr?“

Plötzlich schien sich Colby nicht sehr wohl zu fühlen. Sie steckte sich nervös eine Strähne ihres braunen Haares hinter das Ohr. „Nun ja, es gibt Gerüchte. Ich habe gehört, dass ein Agent sein Wort für dich im Vorstand eingelegt hat. Und…naja, wir befinden uns nun einmal in einer Umgebung, die von Männern dominiert wird. Du kannst dir vorstellen, in welche Richtung die Gerüchte gehen.“

Mackenzie verdrehte die Augen, die Situation war ihr peinlich. Sie hatte sich immer gefragt, welche Gerüchte hinter vorgehaltener Hand über sie und Ellington, dem Agenten, der eine große Rolle bei ihrer Aufnahme ins FBI gespielt hatte, im Umlauf waren.

„Tut mir leid“, sagte Colby. „Hätte ich besser nichts sagen sollen?“

Mackenzie zuckte mit den Schultern. „Es ist in Ordnung. Ich schätze, wir alle haben unsere Vergangenheit.“

Colby, die spürte, dass sie womöglich zu viel gesagt hatte, schaute auf den Tisch und nippte nervös an ihrem Getränk. „Tut mir leid“, erwiderte sie leise. „Ich dachte nur, dass du davon wissen solltest. Du bist die erste richtige Freundin, die ich hier gemacht habe, und ich wollte so offen wie möglich sein.“

„Das geht mir genauso“, entgegnete Mackenzie.

„Dann ist zwischen uns also alles in Ordnung?“, fragte Colby.

„Ja. Wie wäre es, wenn wir jetzt über ein anderes Thema reden?“

„Oh, kein Problem“, meinte Colby. „Erzähl mir von dir und Harry.“

„Harry Dougan?“, versicherte sich Mackenzie.

„Ja. Der zukünftige Agent, der dich jedes Mal, wenn ihr in einem Raum seid, mit den Augen ausziehen will.“

„Da gibt es nichts zu erzählen“, wehrte Mackenzie ab.

Colby lächelte und verdrehte die Augen. „Wenn du meinst.“

„Nein, wirklich. Er ist nicht mein Typ.“

„Vielleicht bist du auch nicht sein Typ“, spekulierte Colby. „Vielleicht will er dich einfach nur nackt sehen. Ich frage mich…was für ein Typ bist du eigentlich? Ich wette auf tief und psychologisch.“

„Wie kommst du darauf?“, wollte Mackenzie wissen.

„Wegen deiner Interessen und deiner Neigung, in allen Profiling-Kursen und Übungsszenarien hervorzustechen.“

„Ich glaube, das ist ein häufiger Irrglaube über jeden, der sich für Profiling interessiert“, erwiderte Mackenzie. „Wenn du einen Beweis brauchst, kann ich dir mindestens drei ältere Männer der Staatspolizei Nebraskas nennen.“

Danach unterhielten sie sich über banale Dinge – ihren Unterricht, ihre Ausbilder und so weiter. Doch die ganze Zeit über schmorte Mackenzie innerlich. Die Gerüchte, die Colby erwähnt hatte, waren genau der Grund, warum sie sich möglichst unauffällig verhielt. Sie hatte sich nicht bemüht, Freunde zu finden – eine Entscheidung, durch die sie eigentlich mehr als genug Zeit gehabt hatte, ihre Wohnung fertig einzurichten.

Und alles nur wegen Ellington…dem Mann, der nach Nebraska gekommen und ihre Welt verändert hatte. Es hörte sich wie ein Klischee an, aber genau das war geschehen. Und die Tatsache, dass sie ihn immer noch nicht aus dem Kopf bekam, war etwas erschreckend.

Sogar als sie sich mit Colby nett unterhielt und sie zusammen aßen, fragte sich Mackenzie, was Ellington wohl gerade tat. Sie fragte sich auch, was sie jetzt tun würde, wenn er bei ihrem Versuch, den Vogelscheuchen-Mörder zu fassen, nicht nach Nebraska gekommen wäre. Das war keine schöne Vorstellung, wahrscheinlich würde sie immer noch diese qualvoll geraden Straßen entlangfahren, die entweder vom Himmel, den Feldern oder Mais umgeben waren. Außerdem würde sie vermutlich mit einem chauvinistischen Idioten ein Team bilden, der einfach nur eine jüngere und dickköpfigere Version Porters, ihres ehemaligen Teampartners war.

Sie vermisste Nebraska nicht. Sie vermisste nicht die Routine ihres Jobs, den sie dort ausgeübt hatte, und sie vermisste definitiv nicht die dort vorherrschende Geisteshaltung. Was sie jedoch vermisste war das Wissen, dass sie dazu passte. Sogar mehr noch, in Nebraska hatte sie zu den hochrangigsten Mitarbeitern in der Polizeiwache gehört. Hier in Quantico war das anders. Hier hatte sie eine riesige Konkurrenz und sie musste darum kämpfen, ganz oben zu bleiben.

Glücklicherweise war sie für diese Herausforderung mehr als bereit und war froh, den Vogelscheuchen-Mörder und ihr Leben vor dessen Festnahme hinter sich zu lassen.

Wenn sie nur noch diese Alpträume verhindern könnte.