Am nächsten Morgen saß Riley zusammen mit anderen mürrisch aussehenden Studenten im Auditorium der Universität. Obwohl die allgemeine Stimmung auf dem Campus gedrückt war, fragte sie sich, ob sich alle anderen dort so unglücklich fühlten wie sie. Sie dachte, dass einige von ihnen mehr verärgert als traurig aussahen. Einige schienen nervös, als hätten sie Angst vor jeder Bewegung um sie herum.
Wie kommen wir jemals über so etwas hinweg?, fragte sie sich.
Aber natürlich hatten nicht alle Rhea nahe gestanden. Es hatten sie nicht einmal alle gekannt. Sie waren sicher entsetzt bei dem Gedanken an einen Mord auf dem Campus, aber für viele von ihnen war es nichts Persönliches.
Es war persönlich für Riley. Sie konnte den Schrecken nicht abschütteln, der in sie gefahren war beim Anblick von Rheas ...
Sie konnte sich nicht dazu durchringen, diese Worte überhaupt auch nur zu denken. Sie konnte sich ihre Freundin noch nicht als Leiche vorstellen, trotz dem, was sie gestern Abend gesehen hatte.
Die gesamte Campus-Versammlung schien heute völlig losgelöst von dem Geschehenen zu sein. Und es schien sich ewig hinziehen zu wollen, wodurch sie sich noch schlechter fühlte.
Polizeichef Hintz hatte gerade einen strengen Vortrag über die Sicherheit auf dem Campus gehalten und versprochen, dass der Mörder bald verhaftet werden würde. Nun redete und redete Dekan Trusler darüber, wie man die Dinge hier in Lanton wieder in Ordnung bringen wollte.
Viel Glück dabei, dachte Riley.
Die Vorlesungen und Kurse seien für heute abgesagt worden, sagte Trusler, würden aber am Montag wieder stattfinden. Er sagte, dass er verstand, wenn einige Studenten sich nicht bereit fühlten, so bald wieder zu ihren Vorlesungen und Kursen zu gehen, und auch, wenn einige von ihnen nach Hause wollten, um für ein paar Tage bei ihren Familien zu sein, und die Psychologen der Universität bereit waren, allen zu helfen, mit diesem schrecklichen Trauma umzugehen, und ... und ... und ... und ...
Riley schaltete ab und erstickte ein Gähnen, als der Dekan sichtlich durcheinander weiter redete, aber nichts Sinnvolles sagte, was sie betraf. Sie hatte letzte Nacht kaum geschlafen. Sie war gerade eingeschlafen, als das Team des Gerichtsmediziners lautstark eingetroffen war. Dann hatte sie in ihrer Tür gestanden und in stillem Entsetzen zugesehen, wie das Team eine mit Laken bedeckte Form auf einer Trage abtransportierte.
Das kann doch nicht jemand sein, der noch vor wenigen Stunden gelacht und getanzt hat. Das kann nicht wirklich Rhea sein.
Riley war danach überhaupt nicht mehr eingeschlafen. Sie kam nicht umhin, Trudy zu beneiden, die die ganze Nacht über tief zu schlafen schien - wahrscheinlich, so dachte Riley, immer noch benommen von all dem Alkohol, den sie zuvor getrunken hatte.
Die Assistentin des Wohnheims hatte dieses Treffen heute früh über die Sprechanlage angekündigt. Trudy hatte noch im Bett gelegen, als Riley ging. Als Riley zur Versammlung gekommen war, hatte sie Trudy nirgendwo im Auditorium gesehen.
Riley sah sich jetzt um, sah sie aber immer noch nicht. Vielleicht war sie noch im Bett.
Sie verpasst nicht viel, dachte Riley.
Sie konnte auch Rheas Mitbewohnerin, Heather, nirgendwo sehen. Aber Gina und Cassie saßen ein paar Reihen vor ihr. Sie hatten Riley auf dem Weg zum Treffen überholt - offenbar immer noch sauer auf sie, weil sie den Bullen ihre Namen gegeben hatte.
Gestern Abend hatte Riley verstanden, warum sie sich so verhielten, aber jetzt begann es, kindisch zu wirken. Es war auch extrem verletzend. Sie fragte sich, ob sich ihre Freundschaften jemals davon erholen würden.
Im Moment schien das ›Normale‹, von dem der Dekan sprach, für immer ausgelöscht.
Endlich war die Versammlung zu Ende. Als die Schüler aus dem Gebäude strömten, warteten draußen Reporter. Sie stürzten sich sofort auf Gina und Cassie und stellten ihnen alle möglichen Fragen. Riley ahnte, dass sie es geschafft hatten, herauszufinden, wer Rheas Begleiter in der Nacht vor ihrem Mord gewesen waren.
Wenn ja, wussten sie wahrscheinlich auch von Riley. Aber bisher hatten sie sie nicht gesehen. Vielleicht war es ein Glücksfall, dass Gina und Cassie Riley heute Morgen die kalte Schulter gezeigt hatten. Sonst wäre sie jetzt bei ihnen und würde mit ihnen unmögliche Fragen beantworten müssen.
Riley beschleunigte ihren Schritt, um den Reportern aus dem Weg zu gehen. Während sie wegging, konnte sie hören, wie die Reporter Gina und Cassie immer wieder mit der gleichen Frage bombardierten ...
»Wie fühlen Sie sich?«
Rileys Haut kribbelte vor Wut.
Was ist das für eine Frage?, dachte sie.
Was haben sie von Gina und Cassie erwartet?
Riley hatte keine Ahnung, was sie selbst antworten würde - außer vielleicht den Reportern zu sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren.
Sie war immer noch überflutet von verwirrten und schrecklichen Gefühlen - Schock, anhaltender Unglaube, nagender Schrecken und so viel mehr. Das schlimmste aller Gefühle war eine Art Erleichterung, dass sie nicht Rheas Schicksal erlitten hatte.
Wie konnten sie oder ihre Freunde das alles in Worte fassen?
Welcher Mensch brachte es überhaupt fertig, so etwas zu fragen?
Riley ging in die Cafeteria des Studentenwerks. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und bemerkte gerade erst, dass sie Hunger hatte. Am Buffet holte sie sich Speck und Eier und schenkte sich Orangensaft und Kaffee ein. Dann suchte sie sich einen Platz zum Sitzen.
Ihre Augen fielen schnell auf Trudy, die allein an einem Tisch, von den anderen im Raum abwandt, saß und ihr Frühstück aß.
Riley schluckte ängstlich.
Sollte sie es wagen und sich zu Trudy an den Tisch setzen?
Würde Trudy überhaupt mit ihr reden?
Seit gestern Abend, als Trudy Riley voller Bitterkeit gesagt hatte, sie solle schlafen gehen, hatten sie kein einziges Wort gewechselt.
Riley nahm ihren Mut zusammen und manövrierte sich durch den Raum zu Trudys Tisch. Ohne etwas zu sagen, stellte sie ihr Tablett auf den Tisch und setzte sich neben ihre Mitbewohnerin.
Für einige Augenblicke hielt Trudy ihren Kopf gesenkt, als ob sie Rileys Anwesenheit nicht bemerkt hätte.
Schließlich, ohne Riley anzusehen, sagte Trudy: »Ich habe beschlossen, die Versammlung zu schwänzen. Wie war es?«
»Es war scheiße«, sagte Riley. »Ich hätte sie auch schwänzen sollen.«
Sie dachte einen Moment lang nach und fügte hinzu: »Heather war auch nicht da.«
»Nein«, sagte Trudy. »Ich habe gehört, dass ihre Eltern heute Morgen gekommen sind und sie mit nach Hause genommen haben. Ich schätze, niemand weiß, wann sie zurück in die Uni kommt - oder ob sie zurückkommt.«
Als Trudy schließlich Riley ansah, sagte sie: »Hast du gehört, was mit Rory Burdon passiert ist?«
Riley erinnerte sich, wie Hintz sie gestern Abend nach Rory gefragt hatte.
»Nein«, sagte sie.
»Die Bullen tauchten letzte Nacht in seiner Wohnung auf und klopften an seine Tür. Rory hatte keine Ahnung, was los war. Er wusste nicht einmal, was mit Rhea passiert war. Er hatte Todesangst, verhaftet zu werden, und er wusste nicht einmal, warum. Die Cops befragten ihn, bis sie schließlich herausfanden, dass er nicht ihr Mann war, und dann gingen sie.«
Trudy zuckte leicht mit den Achseln und fügte hinzu: »Der arme Kerl. Ich hätte dem blöden Polizeichef seinen Namen nicht sagen sollen. Aber er stellte all diese Fragen und ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.«
Zwischen den beiden machte sich Stille breit. Riley dachte an Ryan Paige und daran, wie sie seinen Namen gegenüber Hintz erwähnt hatte. Hatten die Cops gestern Abend auch Ryan einen Besuch abgestattet? Es schien nicht unwahrscheinlich, aber Riley hoffte es nicht.
Jedenfalls war sie erleichtert, dass Trudy zumindest bereit war, mit ihr zu reden. Vielleicht könnte Riley es ihr jetzt alles erklären.
Sie sagte langsam: »Trudy, als die Bullen dort ankamen, fragte mich diese Polizistin, was ich wusste, und ich konnte nicht lügen. Ich musste sagen, dass du gestern Abend mit Rhea ausgegangen bist. Ich musste ihr auch von Cassie und Gina und Heather erzählen.«
Trudy nickte. »Ich verstehe, Riley. Du brauchst es nicht zu erklären. Ich verstehe. Und es tut mir leid ... es tut mir leid, dass ich dich so behandelt habe ...«
Plötzlich schluchzte Trudy leise, ihre Tränen fielen ungehindert auf ihr Frühstückstablett.
Sie sagte: »Riley, ist es meine Schuld? Was ist mit Rhea passiert ist?«
Riley konnte ihren Ohren kaum trauen.
»Wovon redest du, Trudy? Natürlich nicht. Wie kann es deine Schuld sein?«
»Nun, ich war gestern Abend so dumm und betrunken, und ich habe nicht darauf geachtet, was los war, und ich erinnere mich nicht einmal daran, wann Rhea den Centaur's Den verlassen hat. Die anderen Mädchen sagten, sie sei allein gegangen. Vielleicht wenn ich ...«
Trudys Stimme verstummte, aber Riley wusste, was sie ungesagt ließ ...
»... mit Rhea nach Hause gegangen wäre.«
Und auch Riley fühlte sich schrecklich schuldig.
Schließlich könnte sie sich die gleiche Frage stellen.
Wenn sie nicht allein aus dem Centaur's Den abgehauen wäre, und in der Nähe gewesen wäre, als Rhea sich zum Aufbruch bereit machte, und wenn sie angeboten hätte, Rhea nach Hause zu bringen ...
Dieses Wort, wenn ...
Riley hatte sich nie vorstellen können, wie schrecklich ein Wort sein konnte.
Trudy weinte leise, und Riley wusste nicht, was sie tun sollte, damit sie sich besser fühlte.
Sie hat sich schon gefragt, warum sie selbst nicht weinte.
Natürlich hatte sie letzte Nacht in ihrem eigenen Bett geweint. Aber sie hatte sicher noch lange nicht genug geweint - nicht bei etwas so Schrecklichem. Sicherlich würde sie noch viele Tränen vergießen.
Sie saß bei ihrem Frühstück, während sich Trudy die Augen wischte, die Nase putzte und sich ein wenig beruhigte.
Trudy sagte: »Riley, da ist eine Sache, die ich mich immer wieder frage, warum? Warum Rhea, meine ich? War es etwas Persönliches? Hat sie jemand genug gehasst, um sie zu töten? Ich verstehe nicht, wie das überhaupt möglich ist. Niemand hasste Rhea. Warum sollte jemand Rhea hassen?«
Riley antwortete nicht, aber sie hatte sich dasselbe gefragt. Sie fragte sich auch, ob die Polizei schon eine Antwort gefunden hatte.
Trudy fuhr fort: »Und war es jemand, den wir kennen, der sie getötet hat? Ist vielleicht einer von uns der Nächste? Riley, ich habe Angst.«
Wieder erwiderte Riley nichts.
Sie war sich jedoch sicher, dass Rhea ihren Mörder gekannt hatte. Sie wusste nicht, warum sie so sicher war - es war nicht so, als wäre sie ein Polizist oder wüsste etwas über Straftäter. Aber etwas in ihrem Bauch sagte ihr, dass Rhea ihren Mörder gekannt und ihm vertraut hatte - bis es zu spät war, sich selbst zu retten.
Trudy sah Riley immer wieder an und sagte: »Du scheinst keine Angst zu haben.«
Riley war erstaunt.
Zum ersten Mal dämmerte es ihr ...
Nein, ich habe keine Angst.
Sie hatte jede andere Art von schrecklichen Gefühlen gespürt - Schuld, Trauer, Schock - und ja, Entsetzen. Aber ihr Entsetzen war irgendwie anders als die Angst um ihr eigenes Leben. Das Grauen, das sie empfand, war wegen Rhea selbst, das Grauen angesichts dessen, was mit ihr geschehen war. Aber Riley hatte keine Angst.
Sie fragte sich, ob es wegen dem war, was ihrer Mutter vor all den Jahren passiert war, dem Klang dieses Schusses, dem Anblick von all dem Blut, dem unfassbaren Verlust, mit dem sie auch heute noch zu kämpfen hatte. Hatte das schrecklichste Trauma, das sie je erlitten hatte, sie stärker gemacht als andere Menschen?
Aus irgendeinem Grund hatte sie fast gehofft, dass dem nicht so ist. Es erschien ihr nicht richtig, so stark zu sein, wenn es andere Leute nicht waren.
Es schien nur nicht ganz so ...
Riley brauchte ein paar Sekunden, um an das Wort zu denken.
Menschlich.
Sie zitterte ein wenig, dann sagte sie zu Trudy: »Ich gehe zurück ins Wohnheim. Ich brauche wirklich etwas Schlaf. Willst du mit mir kommen?«
Trudy schüttelte den Kopf.
»Ich will einfach nur eine Weile hier sitzen«, sagte sie.
Riley stand von ihrem Stuhl auf und umarmte Trudy kurz. Dann leerte sie ihr Frühstückstablett und verließ das Studentenwerk. Es war kein langer Weg zurück zum Wohnheim, und sie war erleichtert, keine Reporter auf dem Weg zu sehen. Als sie zur Vordertür des Wohnheims kam, hielt sie einen Moment inne. Jetzt fiel ihr ein, warum Trudy noch nicht mit ihr zurückkommen wollte. Sie war nur noch nicht bereit, sich dem Wohnheim zu stellen.
Als Riley an der Tür stand, fühlte sie sich auch seltsam deswegen. Natürlich hatte sie die Nacht dort verbracht. Sie lebte dort.
Aber nachdem sie einige Zeit draußen verbracht hatte, wo eine Rückkehr zur Normalität erklärt worden war, war sie jetzt auch bereit, in das Gebäude zurückzukehren, in dem Rhea getötet worden war?
Sie holte tief Luft und ging durch die Vordertür hinein.
Zuerst fand sie, dass es ihr gut ging. Aber als sie weiter den Flur entlang ging, vertiefte sich das seltsame Gefühl. Riley fühlte sich, als würde sie sich unter Wasser bewegen. Sie ging direkt in ihr eigenes Zimmer und wollte gerade die Tür öffnen, als ihr Blick auf das Zimmer weiter unten im Flur gerichtet war, das sich Rhea und Heather geteilt hatten.
Sie ging darauf zu und sah, dass die Tür verschlossen und mit Polizeiband versiegelt war.
Riley stand da und war plötzlich schrecklich neugierig.
Wie sah es da drin aus?
War das Zimmer aufgeräumt worden, seit sie es zuletzt gesehen hatte?
Oder war Rheas Blut noch da?
Riley wurde von einer schrecklichen Versuchung ergriffen, das Band zu ignorieren, die Tür zu öffnen und direkt hineinzugehen.
Sie wusste aber, dass sie dieser Versuchung nicht nachgeben konnte. Und natürlich wäre die Tür verschlossen.
Aber trotzdem ...
Warum fühle ich mich so?
Sie stand da und versuchte, diesen mysteriösen Drang zu verstehen. Sie begann zu begreifen - es hatte etwas mit dem Mörder selbst zu tun.
Sie konnte nicht umhin darüber nachzudenken ...
Wenn ich diese Tür öffne, kann ich in seinen Verstand schauen.
Es machte natürlich keinen Sinn.
Und es war eine wirklich erschreckende Idee, in einen so teuflischen Verstand zu schauen.
Warum?, fragte sie sich immer wieder.
Warum wollte sie den Mörder verstehen?
Warum um alles in der Welt fühlte sie so eine widernatürliche Neugierde?
Zum ersten Mal, seit diese schreckliche Sache passiert war, hatte Riley plötzlich richtig Angst ...
... nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen sich selbst.
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