Читать бесплатно книгу «Auf Gottes Wegen» Bjørnstjerne Bjørnson полностью онлайн — MyBook
image
cover

 

















Er erinnerte sich, wie der Geographielehrer in einer schläfrigen Stunde einmal die Frage gestellt hatte: "Welche Wege sind die besten?" Im Lehrbuch stand: "Für den Warentransport sind noch immer die Seewege die besten." – "Na – also welche Wege sind die besten? Du, Tuft?" – "Gottes Wege!" antwortete Tuft. Die ganze Klasse war mit einemmal munter; ein brüllendes Gelächter verkündete das.

Aber bei alledem – Edvard Kallem wußte wirklich nicht recht, was "Gottes Wege" bedeute. Ole – drunten im Fischerdorf – auf Gottes Wegen? Vor lauter Neugier vergaß er ganz, daß er Sittenpolizei war! Gradheraus, wie jeder andere Junge, sagte er: "Ich versteh' nicht, was Du damit meinst! Gottes Wege – sagst Du?" Der andere bemerkte sogleich die Veränderung. Die eben noch so scharfen Augen blickten freundlich; nur der seltsame Glanz, der nie aus ihnen wich, lag noch darin. Unter allen Schulkameraden bewunderte Ole in aller Stille keinen so sehr wie den Edvard Kallem. Der Bauernjunge litt entsetzlich unter dem überlegenen Scharfsinn und der Gewandtheit der Stadtjungen, und der vornehmste Repräsentant dieser Eigenschaften war Edvard Kallem. Und noch ein Glorienschein umgab sein Haupt … er war der Bruder seiner braunlockigen Schwester.

Einen unerträglichen Fehler hatte er: er war ein Erzspottvogel. Alle Augenblicke setzte es deswegen Haue – mal von den Lehrern, dann vom Vater oder von den Kameraden. Und in der nächsten Minute fing er schon wieder an. Das ging über den Verstand des Bauernjungen. Und darum wirkte auch ein freundliches Wort, ein Lächeln von Edvard weit mehr, als es eigentlich sagen wollte. Es hatte den Sonnenglanz der Gnade, der Vornehmheit. Diese einschmeichelnden, milden Fragen, die der gewesene Raubvogel (von dem jetzt bloß noch der Schnabel übrig war) stellte, verflossen in eins mit dem Leuchten der Augen. Und Ole streckte die Waffen. Sowie Edvard seine Taktik änderte und treuherzig bat, den Korb sehen zu dürfen, lieferte Ole ihn aus und fühlte sich völlig beruhigt und kampfunfähig; er trocknete sich die Augen mit seinen großen Fausthandschuhen, zog den einen aus und schneuzte sich in die Finger – besann sich auf einmal, daß er zu diesem Zweck ein karriertes Sacktuch besaß, suchte darnach und fand es nicht …

Edvard hatte den Korbdeckel aufgemacht; ehe er ihn zurückschlug, blickte er auf: "Du möchtest vielleicht lieber nicht – —?" – "Doch, gern!" – Edvard schob den Deckel zur Seite. Ein großes Buch lag darunter – die Bibel. Er wurde starr, beinah ehrfürchtig. Unter der Bibel lagen verschiedene ungebundene Hefte. Er nahm ein paar heraus, drehte sie um und legte sie wieder hinein. Es waren Traktate. Die Bibel legte er behutsam wieder an ihren Platz, breitete das Tuch darüber und machte den Deckel zu. Im Grunde war er so klug wie zuvor, oder vielmehr nur noch neugieriger.

"Du liest doch nicht etwa den Leuten da unten aus der Bibel vor?" fragte er. Ole Tuft errötete. "Doch – manchmal —" – "Wem denn?" – "Ach, den Kranken. Aber oft komm' ich ja nicht dazu —" – "Zu den Kranken gehst Du?" – "Ja – zu den Kranken geh' ich eben." – "Zu den Kranken? Du? Aber lieber Gott, – was tust Du denn da?" – "Oh, ihnen helfen – so gut ich eben kann!" – "Du?" fragte Edvard mit allem Erstaunen, dessen er fähig war. Und nach einer Pause fügte er hinzu: "Mit was denn? Mit Essen?" – "Das auch. Ich helf' ihnen eben mit allem, was sie brauchen. Umbetten – —" – "Umbetten?" – "Ja! Sie liegen doch auf Stroh. Und darin liegen sie, bis es stinkt, weißt Du. Manchmal machen sie's auch noch schmutzig, wenn sie krank sind, und sich nicht selber helfen können; tagsüber ist ja oft kein Mensch bei ihnen. Die Leute sind bei der Arbeit, und die Kinder in der Schule. Und wenn ich dann nachmittags hinkomme, geh' ich hinunter zu den Böten, die mit Stroh fahren; das kauf' ich und trag's hinauf und nehm' das alte weg." – "Wo kriegst Du denn das Geld her?" fragte Edvard. – "Tante spart es mir zusammen, und auch Josefine." – "Josefine?" rief der Bruder. – "Ja! Aber vielleicht hätt' ich das nicht sagen sollen."

"Von wem kriegt denn Josefine das Geld?" fragte Edvard mit der wachsamen Strenge des älteren Bruders. Ole überlegte einen Augenblick und erwiderte dann fest und bestimmt: "Von Deinem Vater." – "Von Vater?" – —

Edvard wußte, selbst wenn Josefine ihn darum bäte, so würde der Vater niemals Geld unnütz ausgeben; erst mußte er wissen, wozu er es gab. Der Vater hatte also gebilligt, was Ole tat. Und damit war die Sache in Edvards Augen über jeden Zweifel erhaben. Ole fühlte augenblicklich diesen völligen Umschlag; er sah ihn auch Edvards Augen an. Jetzt kam ihm die Lust, noch mehr zu erzählen, und das tat er auch. Er berichtete, er habe oft furchtbar viel Arbeit, wenn er komme. Feuer müsse er machen, das Essen aufsetzen, kochen … – "Kannst Du kochen?" – "Freilich! Und Reinmachen, und Einkaufen, und sehen, ob nicht irgend jemand hinüberrudert, den ich nach der Apotheke schicken kann; denn oft hat der Doktor irgend was verschrieben, aber sie haben es nicht geholt." – "Und zu alledem hast Du Zeit?" – "Ja. Bei Schultzes mach' ich's gleich nach Tisch ab, und meine eigenen Schularbeiten mach' ich nachts." Und so erzählte er, des längeren und breiteren, bis ihm selber einfiel, daß sie noch vor Einbruch der Dunkelheit unten sein müßten.

In tiefen Gedanken ging Edvard voran; der andere mit dem Korb hinterdrein.

Hier, wo die Klippe abfiel, hörte man das Tosen des Meers, als komme es aus der Luft, wie das Sausen eines vorüberziehenden Vogelschwarms – hoch, hoch oben. Es wurde kalt; man sah den Mond; aber die Sterne noch nicht. Doch – einen einzigen. "Wie bist Du denn eigentlich darauf gekommen?" fragte Edvard und wandte sich um. Ole blieb gleichfalls stehen. Er nahm seinen Korb aus einer Hand in die andere. Ob er's wagen, ob er alles sagen sollte? Edvard merkte sofort – da steckte noch mehr dahinter – und zwar war das das Wichtigste. "Kannst Du's nicht sagen?" fragte er, als wenn es ihm ganz gleichgültig sei. – "Oh doch – ich kann schon!" Aber Ole fuhr fort, den Korb von einer Hand in die andere zu nehmen, und sagte nichts weiter. Jetzt konnte Edvard nicht länger an sich halten; er fing an, Ole ordentlich deswegen zu quälen, was diesem auch ganz lieb war – doch immer noch überlegte er. "Es ist doch nichts Böses?" – "Nein, etwas Böses ist es nicht." Nach einer Pause fügte er hinzu: "Im Gegenteil – eher was Großes – etwas wirklich Großes sogar!" – "Etwas wirklich Großes?" – "Eigentlich das Größte in der Welt!" – "Nanu!" – "Wenn Du's bloß nicht weitersagen wolltest! Keiner Menschenseele! Hörst Du? Dann wollt' ich Dir's schon erzählen!" – "Also – Du – was denn?" – "Ich will Missionär werden!" – "Missionär?" – "Ja – Heidenmissionär! Ein richtiger, für die Wilden, weißt Du, die Menschen fressen!" Er sah – viel mehr konnte Edvard nicht ertragen; deshalb beeilte er sich, rasch noch etwas über Zyklone, wilde Raubtiere und giftige Schlangen hinzuzufügen: "Auf so was muß man sich einüben, siehst Du!" – "Einüben? Gegen reißende Tiere und giftige Schlangen?" Edvard fing an, das Unglaubliche glaublich zu finden. – "Das Schlimmste sind die Menschen!" sagte Ole, die Tiere umgehend. "Das sind nämlich ganz fürchterliche Heiden, diese Kerle, und wild, und bös, und grausam. So ohne weiteres hinrennen – das hat keinen Sinn. Man muß Übung haben." – "Aber wieso kommst Du zu denen unten? Das sind doch keine Heiden – die im Dorf?" – "Das nicht. Aber man lernt doch allerhand auch bei ihnen. Zimperlich darf man nicht bei ihnen sein – im Gegenteil, die ärgsten Schweinereien muten sie einem zu. Wenn einer krank ist und querköpfig, so ist er meist auch voller Mißtrauen; manche sind geradezu bösartig. Denk bloß, neulich abends hat ein Weib mich sogar hauen wollen." – "Hauen?" – "Da hab' ich zu Gott gebetet, sie sollte es tun; aber sie hat bloß geflucht." Oles Augen glühten; sein Gesicht war verzückt. "Hier, in einem Traktat, den ich in meinem Korbe hab', steht, es sei der Fehler unserer Missionäre, daß sie hinausgingen, ohne sich erst zu üben. Denn es sei eine große Kunst, Menschen zu gewinnen, steht da. Sie zu gewinnen für das Reich Gottes, das sei die schwerste aller Künste. Und eigentlich müßten wir uns von Jugend, ja von Kindesbeinen an darauf einüben; so steht geschrieben, und das will ich tun. Denn Missionär sein – siehst Du – das ist doch das Höchste auf Erden. Das ist mehr als König sein, mehr als Kaiser und Papst sein; das steht in dem Traktat. Und es steht auch darin, ein Missionär habe gesagt: Und hätte ich zehn Leben, ich gäbe sie alle zehn hin für die Mission … Und das will ich auch."

Sie gingen jetzt Seite an Seite. Ole hatte sich, ohne es zu wissen, den aufleuchtenden Sternen zugekehrt. Beide standen eine Weile so und starrten in die Luft. Unter ihnen der Hafen mit den Schiffen in verschwommenen Umrissen, die Brücken, niedrig, schwer; die Stadt mit ihren verstreuten Lichtern; weiter draußen der Strand, wollgrau von Schnee, und daneben das schwarze Meer; hier unten hörte man es wieder, wenn auch schwächer; das einförmige Tosen verfloß mit dem sternbesäten Halbdunkel. Zwischen den Knaben zitterten unsichtbare Fäden hin und her; Gefühle knüpften sich an. Von keinem andern wünschte Ole so sehnlich, gut beurteilt zu werden, wie von dem, der in seiner leichten Pelzmütze vor ihm stand; und Edvard dachte, wie viel besser doch Ole sei als er. Denn daß er selber gräßlich war, das wußte er; das hörte er ja alle Tage. Er sah seitwärts auf den Bauernjungen; – die tief über die Ohren gezogene Zipfelmütze, die großen Fausthandschuhe, der plumpe Schal, die weite Friesjacke, die breiten Hosen, die schweren, eisenbeschlagenen Stiefel – nur – die Augen wogen das alles auf, und das treuherzige Gesicht, wenn es auch ein bißchen altklug war … Ole wird einmal ein großer Mann werden!

Sie trabten weiter, Edvard voran, Ole hinterher, hinunter zur "Vorstadt". So hieß der Stadtteil, der an den "Berg" stieß und im wesentlichen aus Arbeiterhäusern, Werkstätten und kleineren Fabriken bestand. Ordentliche Straßenanlagen oder Beleuchtung gab es hier noch nicht; es war jetzt, beim Tauwetter, ein entsetzlicher Morast, der in der Abendkälte gerade zu gefrieren begann. Die paar Laternen, die vorhanden waren, hingen an Stricken, die vom einen Haus zum andern quer über die Gasse gespannt waren, und hinauf- und hinuntergezogen werden konnten. Sie waren schwarz von Qualm und daher äußerst schlechter Laune. Hier und dort hatte eine kleine Werkstatt ihre eigene kleine Laterne, die über der Haustreppe hing. Unter einer solchen Laterne blieb Edvard stehen. Er mußte wieder etwas fragen. Nämlich – wer es eigentlich sei, dessen Ole sich dort unten annahm? Einer, den sie beide kannten? Frohgemut setzte Ole seinen Korb auf die Treppe und stützte sich mit der Hand darauf. Er lächelte: "Du kennst doch die Marte von der Werft?" Ja, die kannte die ganze Stadt; eine tüchtige Frau; aber sie trank; und oft hatten die Schuljungen am Samstagabend ihren Jux mit ihr, wenn sie, an eine Mauer gelehnt, dastand und sie ausschimpfte und sich schließlich umdrehte und zum Zeichen ihrer Hochachtung – na ja, wie das Zeichen aussah, läßt sich nicht gut beschreiben! Aber die Bengels warteten bloß darauf; und die Sache wurde stets mit Jubelgeheul begrüßt.

"Die Marte von der Werft!" rief Edvard. "Die willst Du bekehren?" – "Still doch! Nicht so laut!" bat Ole. Er war flammend rot geworden und sah sich erschrocken um. Edvard wiederholte flüsternd: "Glaubst Du, irgend ein Mensch könnte die bekehren?" – "Ich glaube, ich bin auf dem besten Wege!" flüsterte der andere geheimnisvoll. – "Du mußt schon entschuldigen – aber ich glaub' es nicht!" Die Augen schielten, der Mund verzog sich zu einem Lächeln. – "Wart' nur erst und hör' mich an! Du weißt doch, im Winter ist sie auf dem Glatteis hingefallen und hat sich bösen Schaden getan?" Jawohl, das wußte er. – "Seitdem liegt sie im Bett, und kein Mensch hat Lust, ihr zu helfen. Sie ist doch so bösartig und kratzbürstig. Gegen mich war sie anfangs widerwärtig – kaum zum Aushalten war's. Aber ich achtete einfach nicht darauf, und jetzt heißt es nur noch 'mein Gottesengelchen', 'mein Lämmeken', 'mein Goldsöhnchen', 'mein gutes Kind'. Denn ich habe sie umgebettet und Kleider und Essen und Bettzeug für sie gesammelt, und die ärgsten Dinge für sie getan, siehst Du. Und doch hat sie eines Abends Miene gemacht, mich zu schlagen, wie ich ihr aufhelfen wollte, und ihr krankes Bein ihr dabei wehtat. Sie schrie wie besessen und hob ihren Stock gegen mich; aber dann nahm sie sich zusammen und fluchte nur ganz fürchterlich und warf mir Schimpfworte an den Kopf. Jetzt ist sie wieder ganz sanft, und neulich hab' ich's sogar gewagt, ihr aus der Bibel vorzulesen." – "Der Marte von der Werft?" – "Die Bergpredigt. Und daß Du's nur weißt – sie hat geweint." – "Geweint? Hat sie's denn verstanden?" – "Nee, sie hat so geweint, daß sie nicht viel davon gehört hat, glaub' ich. Aber die Bibel war es doch, siehst Du. Sie fing schon an zu weinen, als ich das Buch nur herauszog."

Die Knaben sahen einander an; vom Hof her klangen Hammerschläge und in der Ferne eine Dampfpfeife; dann von der Gasse gegenüber das leise Weinen eines Kindes. – "Hat sie was gesagt?" – "Sie sagte, sie sei viel zu schlecht, um so was anzuhören, hat sie gesagt. Und ich erklärte ihr, daß dem lieben Gott gerade die Geringsten die liebsten wären. Sie tat aber, als höre sie das nicht, sondern sagte nur, ich solle doch einmal beim Wäscher-Lars nachsehen, ob er daheim sei." – "Beim Wäscher-Lars?" schrie Edvard, und Ole mußte wieder "Psst!" sagen; der Wäscher-Lars war nämlich ihr guter Freund. – "Du kannst mir's glauben, der ist die ganze Zeit über furchtbar nett gewesen. Im Wäscher-Lars steckt viel Gutes, das sagen alle. Jeden Abend kommt er und hilft ihr. Heut Abend ist er früher gekommen als sonst, darum konnt' ich gehen; sonst bleib' ich viel länger." – "Hast Du ihr noch öfter vorgelesen?" – "Ja, heute wieder. Gleich fing sie wieder zu weinen an; aber heute, glaub' ich, hat sie was gehört. Denn wie ich ihr das vom verlorenen Sohn vorlas, sagte sie: ich bin ja woll eins von seinen Schweinen!" – Beide Jungens lachten. "Da sagt' ich denn, das glaubte ich doch nicht. Dann wollte ich versuchen, zu beten. Ach, das nützt ja doch alles nichts! sagte sie. Aber als ich dann das Vaterunser anfing, wurde sie ganz verdreht, weißt Du, gerad' als ob sie sich fürchte, und sie richtete sich auf und schrie, davon wolle sie nichts wissen – unter keinen Umständen! Und dann legte sie sich wieder hin und heulte." – "Es wurde also nichts?" – "Nein, und dann kam der Wäscher-Lars, und sie sagte, ich solle gehen. Aber siehst Du, wie es gewirkt hat? Glaubst Du nicht, daß ich auf dem besten Wege bin?" – Edvard war nicht so ganz sicher.

Seine Bewunderung hatte augenscheinlich einen kleinen Knax bekommen.

Bald darauf trennten sie sich.

...
9

Бесплатно

0 
(0 оценок)

Читать книгу: «Auf Gottes Wegen»

Установите приложение, чтобы читать эту книгу бесплатно