Das sanfte Lächeln Christas begleitete Fabian, während er durch den stillen Hofgarten zurückging. Ich fühle mich leicht und unbeschwert in ihrer Nähe, dachte er. Sobald er aber die erhellten Schaufenster der Stadt erblickte, kehrten wieder jene Gedanken zurück, die ihn auf dem Nachhauseweg von Wolfgang beschäftigt hatten.
Nun gut, er war entschlossen zu handeln! Es gab keinen andern Weg für ihn. Noch sah er den Weg, der ihm vorgezeichnet war, nicht völlig klar vor sich, wie eine Straße in der Morgendämmerung lag er vor ihm. Aber er wusste, dass er ihn zum Ziele führen würde.
Das Geschäft des Schneiders März war völlig leer, und da ihm nichts erwünschter sein konnte, als völlig unbeobachtet zu sein, trat er ein. Es war ja schließlich auch nötig, dass er sich um seine Wintergarderobe kümmerte, wozu er während seines Urlaubs keine Gelegenheit hatte. Der schneeweiße, fast durchsichtig erscheinende Schneidermeister März, zu dessen besten Kunden er zählte, begrüßte ihn mit devoter Zuvorkommenheit und holte sofort den neuen Wintermantel aus einem Schrank.
«Mit dem Mantel kann ich mich überall sehen lasse», sagte Fabian und betrachtete sich befriedigt im Spiegel.
«Überall». erwiderte März mit der leicht heiseren Stimme eines alten Mannes. «Mit der schönsten jungen Dame der Stadt können Sie getrost Arm in Arm durch die Wilhelmstraße spazieren».
Fabian lachte. Er liebte Schmeicheleien, auch wenn sie plump waren. Dann bat er, Muster für Winteranzüge sehen zu dürfen, und der Schneider holte Stoffbündel aus den Regalen und warf sie auf den Ladentisch. Fabian wünschte gern einen Stoff, den nicht jeder Beamte und Verkäufer trug. Während er seine Stoffe aussuchte, streifte er öfter einige dicke Ballen brauner Stoffe, wie man sie zu den Uniformen der Partei trug, mit den Blicken. «Schöne Stoffe». lobte er und prüfte das Tuch zwischen den Fingern.
«Erstklassige Ware, einfach unverwüstlich». versicherte der Schneider, das Metermaß um den Rockkragen gehängt. «Sind Sie inzwischen schon bei Habicht gewesen, um sich eintragen zu lassen».
Fabian schüttelte den Kopf. «Sie wissen, ich war wegen einer Herzgeschichte vier Monate auf Urlaub».
«Ja, das weiß ich. Nun aber bleiben Sie ja wohl vorläufig hier bei uns? Sie kennen doch Habicht, den Leiter der Ortsgruppe».
«Ja, natürlich kenne ich ih», erwiderte Fabian. «Er hat mir vor zwei Jahren meine Reitstiefel ausgebessert».
«Ausgebessert». Der Schneider lachte. «Heute bessert er nichts mehr aus. Er kann sich ja heute nicht mehr retten vor Aufträgen und beschäftigt fünfzig Gesellen. Es ist ihm zu gönnen[38]. Tag und Nacht war er für die Partei tätig, Tag und Nacht, und das in einer Zeit, wo es noch Leute gab, die einen nicht ernst nahmen, wenn man sich für die Partei einsetzte. Habicht und ich sind fast die ersten hier in der Stadt gewesen. Nun, Habicht hat sein Glück gemacht, er hat das lange Haus der Witwe Kirsch gekauft und eine Unmenge Maschinen angeschafft. Einem Ortsgruppenleiter leiht jede Bank Geld! Er dürfte wohl bald eine Fabrik eröffnen! Dieser Stoff würde Sie herrlich kleiden, sehen Sie? Sie werden ja doch noch zu uns kommen, ich wette mit Ihnen, was Sie wollen».
«Ich weiß es nich», antwortete Fabian ausweichend. «Als ehemaliger Militär müsste ich mich ja wohl einer militärischen Formation anschließen».
«Ganz unbedingt! Sie waren Hauptmann, soviel ich weiß? Nun, da würden Sie sehr rasch einen hohen Posten erhalten».
Fabian sah wenig begeistert aus und schüttelte den Kopf. «Das will ich eben vermeide», erwiderte er. «Sie ahnen nicht, wie wenig Zeit ich habe».
«Ach, Sie meinen wegen des Postens». fuhr der Schneider eifrig fort. «Nun, wenn Sie keine Zeit haben, nehmen Sie eben nichts an. Das machen ja viele. Ein Mann, der so sprechen kann wie Sie, gehört zu uns. Oft habe ich zu den Kameraden gesagt: „Warum ist Doktor Fabian nicht bei uns? Solch einen Mann müssten wir haben, einen solchen Redner!“ Noch heute höre ich Sie im Rathaussaal sprechen, das war wirklich eine Rede».
Fabian ließ sich noch eine Auswahl von Stoffen zeigen, die März mit großer Gewandtheit auf den Tisch warf. Dabei saß er auf dem Ladentisch und telefonierte mit seinem Büro. Er bat seine Sekretärin, Fräulein Zimmermann, noch eine Viertelstunde zu warten, er werde in wenigen Minuten ins Büro kommen. Endlich schien März seinen Geschmack getroffen zu haben. Fabian liebäugelte mit einem etwas helleren, zimtfarbenen Ton, der fast wie Plüsch aussah. «Ich würde diesen Stoff vorziehe», sagte er. «Nun habe ich in den ersten Tagen allerdings noch soviel Dringliches zu erledigen, aber immerhin, wir könnten ja mit dem Anzug beginnen, Herr März».
Der kleine weißhaarige Schneider dienerte. «Sehr wohl, sehr wohl». rief er diensteifrig aus. «Es wird jedenfalls gut sein, sich daranzuhalten, denn es kann jederzeit wieder eine Sperre kommen. Jetzt will jeder in die Partei eintreten. In dieser Woche allein haben sich drei Professoren vom Gymnasium eintragen lassen, Rektor Müller, Redakteur Schill, die ganze Intelligenz der Stadt. Habicht weiß schon nicht mehr, wo ihm der Kopf steht[39]». «Aber hören Sie, unter einer Bedingung». begann Fabian von neuem und dämpfte seine Stimme. «Niemand darf etwas davon erfahren, niemand, unter gar keinen Umständen».
Der Schneider hob beide Hände beschwörend in die Höhe und erwiderte: «Keine Seele, bei meinem Wort».
Fabian fühlte nochmals den zimtfarbenen Stoff zwischen den Fingern. «Gut, diesen also nehme ich». sagte er. «Dann habe ich den Anzug fertig daliegen, wenn ich ihn brauche, und zu Habicht kann ich ja jeden Tag gehen, er bringt die Sache wohl schnell in Ordnung». «Aber natürlich. Bei Ihnen wird er sich besondere Mühe geben». Der Schneider lachte heiser und öffnete die Ladentür.
Vom Schneider begab sich Fabian sofort in sein Büro. Doktor Hammerschmidt, der ihn während seiner Abwesenheit vertrat, war bereits gegangen, ebenso sein Büropersonal, aber seine Sekretärin, Fräulein Zimmermann, ein älteres, unansehnliches Mädchen, erwartete ihn noch, den Hut schon auf dem Kopf. «Die ganze Stadt scheint schon zu wissen, dass Sie aus dem Urlaub zurück sin», empfing sie ihn. «Die Anrufe habe ich hier notiert. Herr Sanitätsrat Fahle hat heute schon dreimal angeklingelt und lässt Sie bitten, ihn, wenn möglich, noch heute in Amselwies anzurufe», bestellte sie.
Fabian bat, ihn sogleich mit Sanitätsrat Fahle zu verbinden. Der Sanitätsrat war seit Jahren Fabians Hausarzt, dem er sehr verpflichtet war und den er, wie die ganze Stadt, aufrichtig verehrte. Sanitätsrat Fahle sprach mit müder Stimme und ziemlich verworren. «Es handle sich um eine private Angelegenheit, die sich am Telefon nur schwer berichten lass».. Ja, er lebe seit einiger Zeit auf seinem Landsitz und sei von all den Aufregungen krank geworden.
Fabian versprach, morgen bei ihm vorzusprechen. Dann gab er Fräulein Zimmermann den Auftrag, ihm alle aktuellen Akten bereitzulegen, er wolle heute bis in die späte Nacht arbeiten. «Bringen Sie mir auch bitte die Jahresberichte der Schellhammerschen Werk», fügte er hinzu. «Die Berichte Schellhammer werde ich sofort heraussuchen. Die Akten liegen schon berei», erwiderte die Sekretärin. «Es ist übrigens wenig Neues hinzugekommen, wie Sie wissen. In der Praxis ist es zur Zeit sehr still». fügte sie hinzu. Da Fabian nichts entgegnete, wünschte sie ihm gute Nacht und ging.
«Gute Nach», sagte Fabian. Er war allein und vertiefte sich in den Stapel Akten. Seine Praxis als Anwalt, die vordem außerordentlich florierte, war in den letzten Monaten ganz auffällig zurückgegangen, sie deckte kaum noch seine Spesen.
«In der Praxis ist es zur Zeit sehr still». Er lachte vor sich hin. «Sie scheinen noch immer nicht zu verstehen, Fräulein Zimmermann, dass man uns ganz einfach boykottiert». sagte er zu seiner Sekretärin und erinnerte sich erst, dass sie schon gegangen war, «Noch immer scheinen Sie die wahre Lage der Dinge zu erkennen, mein wertes Fräulei», fuhr er sarkastisch fort. Und mit einem überlegenen Lächeln fügte er hinzu: «Ich glaube, Ihnen indessen verraten zu dürfen, meine Beste, dass sich das bald ändern dürfte, sehr bald».
Er griff nach einem Aktenstück und begann darin zu lesen. «Glauben Sie, dass ich ein Mann bin, der die geringste Lust hat, unterzugehen? Wie? Nun, man kennt doch die Geschichte, Verehrteste. Murat und Ney wären zeit ihres Lebens kleine Korporale geblieben, wenn sie nicht die Klugheit und den Mut besessen hätten, Entschlüsse zu fassen».
Am nächsten Morgen frühstückte Fabian mit großer Befriedigung im Herzen. Nun wohl, er hatte gehandelt! Es gab natürlich noch dieses und jenes, womit er nicht einverstanden war, aber er war froh über seine Entschlossenheit. Nur ein Narr konnte in dieser Welt Vollkommenheit erwarten, sagte er sich. Die Interessen seiner Familie und seiner beiden Jungen hatten einen Entschluss von ihm gefordert. In wenigen Wochen hätte man ihm das Büro geschlossen, und dann saß er auf der Straße. Er war aber keineswegs geneigt, wegen einer Formalität seinen Lebensstandard aufzugeben, solange es noch andere Möglichkeiten gab. Das konnte wahrhaftig niemand von ihm verlangen. Und noch etwas kam dazu, etwas sehr Wesentliches! War er in der Partei, so ließ man ihn in Ruhe, und er brauchte nicht in der Angst zu leben, von den Leuten der Heiligengeistgasse abgeholt zu werden, wenn es ihnen gerade Vergnügen machte!
An diesem Morgen hielt er sich länger in seinem Büro auf. Er dankte seinen Mitarbeitern und sprach die Hoffnung aus, dass sie ihm auch die Treue bewahren würden, wenn die Arbeit sich verdoppeln und verdreifachen würde.
Ein Rechtspraktikant, der als Volontär mäßig bezahlt war, bat ihn um Gehaltsaufbesserung, sonst müsse er sich um eine andere Stellung bemühen, er habe seine alte Mutter zu erhalten. «Eine andere Stellung». fiel ihm Fabian ins Wort. «Und gerade jetzt, da die Praxis wieder aufblühen wird? Daraus wird nichts, mein Freund». Er bewilligte dem Volontär seine Bitte und gab ihm sofort den besonderen Auftrag, sich in die Materie Schellhammer gründlich einzuarbeiten. Er brauche eine zuverlässige Kraft, die in jeder Einzelheit beschlagen sei, er selbst habe ja nicht die Zeit dazu.
Einige Stunden erledigte er die dringendsten Arbeiten in seinem Büro, dann bat er Fräulein Zimmermann, ihn mit seinem Bruder Wolfgang in Jakobsbühl zu verbinden.
Wolf gang war in gereizter Laune. Er knurrte wütende Worte ins Telefon, sprach von Würdelosigkeit, Beschimpfung, Unverschämtheit und Anmaßung, so dass Fabian laut auflachen musste. «In der Französischen Revolution hätte man dir einfach den Kopf abgeschlage», rief er aus, was Wolfgang zu beruhigen schien. Man hatte ihn heute morgen in der Heiligengeistgasse eine volle Stunde warten lassen, was er skandalös fand, dann hatten ihm zwei Grünschnäbel einen unverschämten Vortrag über die Pflichten im Tausendjährigen Reich und allen möglichen Unsinn gehalten. Es ging etwas laut dabei her, und schließlich hatten sie ihm mit «Birkhol». gedroht. Mit einem Wort, Würdelosigkeit, Schamlosigkeit und Frechheit! Am Schluss hatten sie ihn mit einer Verwarnung entlassen.
Fabian versuchte ihn zu beruhigen. Heute oder morgen würden sie beide eine Flasche Wein im «Ster». zusammen trinken und die Welt durch das herrliche Rubinrot eines vollen Glases betrachten, nicht wahr?
Zur Mittagszeit verließ Fabian sein Büro. Langsam schlenderte er durch die Strassen. Er hatte die Absicht, sich zu Baurat Krieg zu begeben, um vielleicht etwas in der Angelegenheit Schellhammer zu erfahren, lief ihm aber zu seiner Überraschung auf dem Marktplatz in die Arme. Den Schlapphut in der Hand, mit fliegender Lavallierebinde, stürmte der Baurat am Narzissbrunnen vorbei, ohne jemand zu sehen, tief in Gedanken versunken. «Krieg». rief ihn Fabian an. «Zu Ihnen wollte ich gerade».
Der Baurat befand sich mitten in einer Pechserie, wie er klagte. Seine Frau und seine beiden Töchter, die Zwillinge, waren gestern abend nach Hamburg abgereist. Am Morgen musste er sein Frühstück allein kochen. Es war, um die Wände hinaufzuklettern.
Fabian ließ sein tröstendes Lachen hören und lud den Baurat ein, mit ihm Leberknödel in der «Kuge». zu essen.
Mit einem Pilsner und Leberknödeln sah Krieg seine Pechserie nicht mehr so hoffnungslos an, und Fabian brachte das Gespräch auf die Werke Schellhammer.
«Die Schellhammerschen Werke». Baurat Krieg bestellte sich ein neues Pilsner. «Die Werke Schellhammer». Ja, da wusste er mancherlei zu sagen. Sein Freund Schimmelpfeng, der Architekt, sei ja seit zwei Jahren Architekt bei Schellhammer. Schimmelpfeng habe ihm vor einigen Wochen den Entwurf einer neuen Werkhalle gebracht, um einige statische Schwierigkeiten mit ihm zu besprechen. Es wäre eine mächtige Werkhalle, nichts als Eisen und Glas.
«Sie bauen wohl». fragte Fabian, mit seinen Knödeln beschäftigt. Krieg nickte: «Es hat den Anschei», lachte er. «Drei solcher Riesenhallen wollen sie bauen».
«Drei».
«Ja, drei. Nichts als Eisen und Glas. Die beiden Schellhammer sind größenwahnsinnig geworden. Das Werk soll mehr als doppelt so groß werden. Vor einiger Zeit schwebten Verhandlungen um das Gut des alten Barons Metz am Nordrand der Stadt».
«Schwebten». fragte Fabian. «Finden Sie die Knödel nicht einfach wunderbar».
«Herrlich». nickte Krieg. «Ob man sich noch eine Portion bestellen kann? Ja, schwebten. Ob etwas daraus geworden ist, weiß ich nicht. Das Gut von Metz wäre ein herrlicher Platz für das neue Werk».
«Haben denn die Schellhammer so große Aufträge». fragte Fabian. Der Baurat lachte, dann blickte er sich argwöhnisch und vorsichtig um, beugte sich näher zu Fabian und sagte flüsternd: «Sie sollen jetzt mächtige Heeresaufträge haben, sagt man. Man weiß ja, dass die Schellhammer kürzlich eine halbe Million für politische Zwecke gezeichnet haben. Eine halbe Million, jedenfalls eine bedeutende Summe. Aber das bleibt unter uns, nicht wahr». Plötzlich sprang Krieg auf und zupfte einen vorübergehenden Herrn am Rock. «Herr Assessor». rief er fachend. «An unserem Tisch ist noch Platz».
Auch Fabian erhob sich. «Aber gewis», rief er und deutete auf seinen Stuhl. Er verabschiedete sich, da er dringend gehen müsse.
Auf der Straße winkte er ein Auto heran, das ihn nach dem nahen Dorf Amselwies bringen sollte.
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