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Zakhar Prilepin / Захар Прилепин
Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке

Комментарии и словарь Н. Г. Абросимовой

Translated into German by Erich Klein and Susanna Macht

© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.

All rights reseved.

© КАРО, 2019

Kapitel 1

Sie wurden nicht auf die Tribüne gelassen.

Sascha[1] blickte zu Boden: Die Augen waren müde von den roten Fahnenbahnen und den grauen Militärmänteln.

In der Nähe blitzte es rot auf, berührte die Gesichter, manchmal wehte ein Geruch von altem Leinen daher.

Die Grauen standen hinter der Absperrung. Die Rekruten, alle gleich, mittlerer Größe und staubig, bogen lasch die langen Gummiknüppel. Die Milizionäre hatten feiste, vor Aufregung rot angelaufene Gesichter[2]. Und da war der unumgängliche Offizier, zackig, der kampfeslustig in die Menge schaute. Seine Hände lagen frech am oberen Rand der Absperrung, die die Demonstranten von den Ordnungshütern und der ganzen Stadt abtrennte.

Einige schnauzbärtige Oberleutnants, unter deren Jacken sich üppige Bäuche abzeichneten. Irgendwo musste auch der Oberst sein, der Wichtigste und Allergeschäftigste.

Sascha versuchte zu erraten, wer es diesmal sein würde – der oberste Aufsichtsbeamte über das Oppositionsmeeting, zuständig für die Ordnung. Manchmal war es ein trockener Mann mit asketischen Wangen, der die Leute aus dem Untergrund, die auch schon fett geworden waren, angewidert beobachtete. Manchmal war es einer, der selbst wie jemand aus dem Untergrund wirkte, nur noch sehr viel mehr Untergrund als jene, schwerfälliger, zugleich aber auch beweglicher, aufgeweckter, ständig ein Grinsen im Gesicht und mit kräftigen Zähnen. Noch ein dritter Typus war anzutreffen – ein ganz kleiner, der wie ein Pilz aussah, sich hinter den Reihen der Miliz auf flinken Beinen hin und her bewegte …

Sascha hatte bislang keinen einzigen Obristenstern bemerkt.

Ein wenig weiter, hinter der Absperrung, knirschten die Reifen langsam rollender Autos, die schweren Türen der Metro schwenkten endlos auf und zu; mit Staub bedeckte Obdachlose sammelten Flaschen auf und starrten gierig in die Hälse der Flaschen. Ein Kaukasier trank Limonade und verfolgte die Demonstration hinter dem Rücken der Milizionäre. Sascha fing zufällig seinen Blick auf. Der Kaukasier drehte sich um und ging weg.

Sascha fielen die knapp hinter der Absperrung stehenden Autobusse auf, sie trugen ein Wappen mit einer zähnefletschenden Bestie. Die Vorhänge in den Fenstern der Autobusse waren zugezogen, manchmal wurden diese Vorhänge bewegt. Es saß also jemand in den Bussen – wartete auf die Gelegenheit, auszusteigen, heranzustürmen, den kurzen Gummiknüppel in der festen Faust zusammengepresst, auf der Suche nach jemandem, den er zusammenschlagen könnte, mit voller Wucht und mit einem Hieb[3].

»Siehst du, ja?«, fragte der unausgeschlafene und verkaterte[4] Wenka, dessen Augen wie ein verkochter Pelmen* aufgequollenen waren[5].

Sascha nickte.

Die Hoffnung, dass bei dieser Demo keine Sondereinheit* auftauchen würde, war nicht sehr groß gewesen und bewahrheitete sich auch nicht.

Wenka grinste, als würden im passenden Moment nicht böse Geister in Tarnanzügen und mit schweren Helmen aus dem Autobus herausstürzen, sondern Clowns mit Luftballons.

Sascha bewegte sich ziellos durch die Menge, die hinter die Absperrung zusammengedrängt wurde.

»Wie Aussätzige zusammengetrieben[6] …«

Die Absperrung war aus jeweils zwei Meter langen Abschnitten zusammengesteckt, entlang derer Uniformierte in gleichmäßigem Abstand Stellung bezogen hatten.

Wenka ging hinter Sascha her. Ihre Kolonne befand sich auf der anderen Seite des Platzes, und es war schon Janas klare Stimme zu hören, die Jungs und Mädchen in Position brachte.

Viele von denen, die Sascha, sich vorwärts bewegend, anschaute und berührte, wirkten elend und armselig[7]. Fast alle waren aufgebracht und definitiv nicht sehr jung.

Ihr Verhalten hatte etwas von Todeskandidaten, als wären sie aus letzter Kraft hierher gekommen, um zu sterben. Die Portraits, die sie in Händen hielten, an die Brust drückten, stellten die Führer dar, wobei diese Führer ganz offensichtlich jünger als der Großteil der hier Versammelten waren. Lenins sanftmütig lächelndes Gesicht geisterte da herum, ein vergrößertes Bild, das Sascha noch aus dem Schulbuch kannte. Aus den zittrigen Händen der Alten erhob sich das ruhige Gesicht von Lenins Nachfolger*. Der Erbe trug eine Schirmmütze[8] und die Uniform des Generalissimus.

Dünne, auf grauem Papier gedruckte Zeitungen wurden angeboten, Sascha verzog den Mund und lehnte grob ab.

Alles, was hier vor sich ging, bewirkte nichts als Mitleid und Beklemmung.

Einige Hundert, oder vielleicht Tausend Menschen versammelten sich auf dem Platz in der unerklärlichen Überzeugung, ihre armseligen Zusammenkünfte könnten das Verschwinden der verhassten Macht bewirken.

In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz* vergangen waren[9], waren auch diese Demonstranten endgültig gealtert und niemand hatte mehr Angst vor ihnen.

Freilich[10], als Kostenko, ehemaliger Offizier und, so sonderbar das klingen mag[11], Philosoph, ein kluger Kopf[12] und eine höchst originelle Figur, vor vier Jahren begonnen hatte, diesen Haufen an verbiesterten jungen Menschen auf den Platz hinauszuführen, verstanden die nicht immer, was sie zwischen den roten Fahnen und alten Leuten eigentlich zu suchen hatten. Innerhalb weniger Jahre waren die Jungs erwachsen und wegen ihrer dreisten Aktionen und grölenden Schlägereien bekannt geworden. Mittlerweile fand sich in Kostenkos Partei derart viel und bunt zusammengewürfeltes Jungvieh[13] zusammen, dass man beschlossen hatte, das heutige Meeting mit einer eisernen Absperrung einzugrenzen. Damit es nicht ausbrach[14]

Bisweilen schauten diese kräftigen, abgeklärten Alten voller Interesse und Hoffnung, aber auch mit leichtem Zweifel zu Sascha und Wanja hin.

Der Abgeordnete der patriotischen Parlamentsfraktion trat auf der Tribüne gemessen von einem Fuß auf den anderen. Selbst aus der Entfernung war an seinem glatten, rosigen Gesicht zu erkennen, dass sich der Mann ausgezeichnet ernährte – das unterschied den Abgeordneten von allen neben ihm stehenden geschäftigen Graugesichtigen grundlegend.

Der Abgeordnete trug einen schwarzen, elegant geschnittenen Mantel. Er nahm die Lammfellmütze ab – und stand vor dem Volk mit entblößtem Haupt. Einer aus seinem Fußvolk, das sich hinter dem Abgeordneten drängte, hielt die Mütze in Händen.

Vor der Tribüne waren Transparente mit unsinnigen Sprüchen platziert, die niemanden je zu einer Tat inspirieren würden.

Sascha kniff die Lider zusammen und las.

Es wurde ihnen nicht gestattet, aufzutreten. Die Zeit reiche nicht, stattdessen wurden sie mit sanftem Nachdruck gebeten, nicht länger die Treppe zur Tribüne zu besetzen. Sascha, der auf der vorletzten Stufe stand, schaute von unten nach oben auf den Organisator, der sich erleichtert von Sascha wegdrehte. Der Organisator stellte äußerte Geschäftigkeit zur Schau: »Kommt, Jungs, alles klar. Ein andermal.«

»Was ist mit Kostenko los?«, hörte Sascha im Hinuntergehen die sonore und eindringliche Stimme des Abgeordneten. Der Abgeordnete bemerkte die rote Binde mit dem aggressiven Symbol* auf Saschas Arm und gab die Frage an den Organisator weiter, der sich erleichtert von Sascha abgewandt hatte.

»Er sitzt.« In der Antwort schwang ein bissiger Unterton mit, der allerdings gleich verschwand, als der Abgeordnete gereizt erwiderte: »Dass er sitzt, weiß ich.«

»Es heißt, er bekommt fünfzehn Jahre«, antwortete der Organisator rasch und plötzlich voller Ernst, schon jetzt mit einem gewissen Bedauern über Kostenkos Schicksal.

Während der kurzen Augenblicke, die das Gespräch dauerte, stand Sascha reglos auf der Treppe des engen Aufgangs, er hörte ganz offenbar zu. Eine Stufe weiter unten wartete eine alte Frau, um zur Tribüne heraufzusteigen.

»Also was ist, gehst du jetzt runter, oder nicht?«, fragte sie mürrisch.

Sascha sprang vom Aufgang auf die Straße hinunter.

»Ihr könnt auch unten schreien«, rief sie Sascha noch hinterher. »Für euch ist es auf der Tribüne noch zu früh …«

Wenka, der unten auf Sascha gewartet hatte, verstand ohnehin alles und fragte nichts. Es schien ihm egal zu sein, ob sie auf die Tribüne gelassen wurden oder nicht.

In der Tasche bewegte Wenja einige Dutzend Knallkörper [15]hin und her. Manchmal zog er sie einzeln heraus, drehte sie vor dem Gesicht, als würde er nicht verstehen, worum es sich dabei eigentlich handelte.

»Hast du nichts zu rauchen?«, fragte Saschka. »Ich hab dir doch gesagt …«

»Ja?« Wenja grinste verdutzt. »Und was hast du gesagt?«

Sie zwängten sich aus der Menge wieder heraus zu ihrer Kolonne, die schon angetreten war.

Jana, schwarzhaarig und in eleganter kurzer Jacke, deren Kapuze und Kragen mit Pelz eingefasst waren, ging die Reihen entlang und rief Kommandos. Sie trug blaue, unten leicht ausgestellte Jeans[16], und sie sah bezaubernd aus.

Sascha wusste, dass sie Kostenkos Geliebte war.

Kostenko, ja, der saß im Gefängnis, in Untersuchungshaft[17], er war wegen Waffenkauf verhaftet worden, nur ein paar Maschinenpistolen – doch sie, seine Meute, seine Herde, seine Bande, sie waren nervös in Formation angetreten[18], die Gesichter hinter schwarzen Tüchern, mit schwitzender Stirn und tierischem Blick.

Es waren schwer einzuordnende, merkwürdige junge Männer, einzeln aus dem ganzen Land zusammengeholt, durch etwas Unbekanntes miteinander verbunden, durch eine Markierung, ein Mal, das ihnen seit der Geburt anhaftete.

Irgendwo war da auch Matwej – er war derjenige, der in Kostenkos Abwesenheit die Partei leitete. Allerdings stand Matwej heute nicht in der Kolonne, er schaute von der Seite zu.

Jana hob das Megaphon vors Gesicht und holte mit den Armen aus. Ihre Stimme löste sich sofort in einem einheitlichen Schrei auf, zu hören war nur der erste, angestimmte, glockenhelle Buchstabe.

Sascha stand noch neben der ersten Formation, er konnte seinen Platz nicht finden, während sich seine junge Herde schon zum Schrei geöffnet hatte – am Rand seines Blickfeldes sah er verschreckt auffliegende Tauben, den nervös zusammenzuckenden Offizier, der bei der Absperrung der Rekruten stand, die schon die Schlagstöcke in ihre saftlosen Hände nahmen. Sascha brüllte gemeinsam mit allen anderen – seine Augen waren erfüllt mit jener Leere, die den Schrei ermöglicht und seit je[19] dem Angriff vorausgeht. Sie waren siebenhundert Menschen, und sie schrien das Wort »Revolution«.

»Tischin!«, winkten sie ihm. »Komm hierher!«

Er stand in der ersten Reihe, links außen, neben Wenja, dessen verkaterte Augen, die noch kürzlich verkochten Pelmeni geglichen hatten, jetzt rot und fast angebraten aussahen, als wären sie in eine glühend heiße Pfanne gelegt worden.

»Geh weg, Oma!«, lachte Wenja.

Neben der Kolonne stand eine Alte, und in dem Moment, als die Kolonne für einige Momente verstummte, hörte Sascha ihre Stimme, die offenbar nicht zum ersten Mal ein und dasselbe wiederholte: »Idioten! Ihr seid Provokateure! Euer Kostenko sitzt absichtlich im Gefängnis, um berühmt zu werden! Euch haben die Jidden hierher geschickt!«

Ohne die Alte zu beachten, schritt Jana vorbei, in aller Schwärze, mit einem grellen und bloßen Gesicht, wie eine offene Wunde.

»Gottlose!«[20], schrie ihr die Alte ins Gesicht, doch Jana war schon weg, es war ihr herzlich egal.

Die Großmutter inspizierte mit geschärften Äuglein die Kolonne und entdeckte Sascha.

»Die Juden haben sie geschickt«, wiederholte sie noch einmal. »Da, du bist ein Jud! Ein Jidd und ›SSler‹*

Sascha wurde von dem, der hinter ihm stand, angestoßen, die Kolonne setzte sich in Bewegung[21].

»Re-vo-lu-ti-on« wummerte und vibrierte es auf dem ganzen Platz; es überdeckte den Bass auf der Tribüne, die Gespräche der Miliz über Funk[22], die Stimmen der übrigen Demonstranten.

»Sojus Sosidajuschtschich!*«, »Jungs« – wurde ihnen von der Tribüne zugerufen. »Ihr seid nicht zum Schreien gekommen. Kommt schon, könnt ihr euch einmal auch normal benehmen …«

Die Kolonne, die ihre schwarz-roten Flaggen schwenkte, bewegte sich Richtung Absperrung, vorbei an der Tribüne. Kompaktes, die Ohren mit stumpfem Schmerz erfüllendes, unglaubliches Gebrüll stand in der Luft.

»Den Präsidenten!«, schrie Jana mit gellender Stimme.

»In der Wolga ertränken!«, antworteten im Echo siebenhundert Kehlen[23].

»Den Gouverneur!«

»In der Wolga ertränken!«

»Also, Herrschaften, tut denn niemand etwas …«, warf der Auftretende hilflos ein, und das hier unpassende »Herrschaften«[24] drang bis zu Sascha; es hätte ihn wohl dazu gebracht, zu grinsen, hätte er nicht selbst mit heiserer Stimme so sehr geschrien, dass schon seine Zähne kalt wurden: »Wir hassen die Regierung!«

Alles verfiel in den Rhythmus dieses Brüllens. Vom Schrei schwenkten die Türen der Metro auf und zu, imbTakt desbSchreies hetzten die grauen Jacken herum, zischten die Funkgeräte,bhupten die Autos.

»Liebe und Krieg! Liebe und Krieg!«

»Liebe und Liebe!«, wandelte es Sascha ab, der Jana noch einmalbsah, die sich plötzlich vor der Kolonnebumdrehte, ihre Kapuzebflog davon und fiel zu Boden.

»Wie süß duftet diese Kapuze, und drinnen ist … ihr Kopf«, fiel Sascha ein, und er vergaß diesen unvermittelt auf blitzenden Gedanken sogleich wieder. »Wie ein Honigkuchen aus Tula …« tauchte ein weiterer Gedanke auf, wobei Sascha nicht genau verstand, was er da eigentlich dachte und wozu.

»Ihr sprengt die Demonstration!«[25], schrie eine Frau, die offenbar von der Tribüne herab gelaufen kam und versuchte, Jana am Ärmel zu packen[26]. »Der Sojus!«, rief sie beschwörend zur ersten Reihe hin und versuchte, den Jungs in die Augen zu schauen. »Ihr nennt euch ›Sojus Sosidajuschtschich‹! Was schafft ihr denn? Ihr bringt nur Zwietracht hervor!«

»Zum Demonstrieren bist du hierher gekommen? In diesen Pferch?«, fragte Jana und schob das Megaphon brüsk vom Gesicht weg. »Dann demonstriert mal schön. Wir ziehen von hier ab.«

Sie standen schon direkt an der Absperrung – Sascha bemerkte die Augen der Milizionäre, die unruhig die Umgebung absuchten, sowie den Offizier, der etwas ins Funkgerät schrie.

»Ja!«, brüllte er. »Die Sondereinheit[27] soll kommen. Verdammte Scheiße, diese ›SSler‹ sind hier aufmarschiert.«

»Wir sind irr, wir machen euch platt!«[28], schrie die tobende Kolonne im Chor, stampfte auf und schwenkte dabei die Fahnen.

Wenka wandte sein Gesicht zur Kolonne, mit dem Rücken zu Polizei und Absperrung stehend gab er die Sprengkörper rasch an die nächste Reihe weiter: »Zünd sie an!«

Die Tribüne schwieg, alle schauten zu der wild brüllenden Formation.

Einige Knallkörper explodierten gleichzeitig, dann flog ein Kanonenschlag Richtung Miliz, es knallte neben dem vor Schreck zusammenzuckenden Offizier und begann heftig zu rauchen.

Sascha sah, wie ein Milizionär, der nicht ganz kapierte, was da vor sich ging, einfach umkehrte und die Straße davonlief, seine Kappe rollte zur Seite.

»Re-vo-lu-ti-on!«, wurde jetzt schon in unüberhörbarer Hysterie geschrien, die Gruppe mit Turnschuhen und zerfledderten Bomberstiefeln stampfte rhythmisch.

Über der Kolonne flammten bengalische Feuer auf.

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