Das Rad schwang. Der Weiser rückte. Knabenkraut und Akelei waren verblüht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, blaß und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase, und über den Waldungen lag es röt-lich. Herbstnachtgleiche war vorüber, Allerseelen in Sicht und für geübtere Zeitverbraucher wohl auch der erste Advent, der kürzeste Tag und das Weihnachtsfest. Noch aber reihten sich schöne Oktobertage – Tage von der Art dessen, an dem die Vet-tern des Hofrats Ölgemälde besichtigt hatten.
Seit Joachims Weggang saß Hans Castorp nicht mehr am Ti-sche der Stöhr, nicht mehr an demjenigen, von dem Doktor Blumenkohl weggestorben war, und an dem Marusja ihre un-begründete Heiterkeit im Apfelsinentüchlein erstickt hatte. Neue Gäste saßen jetzt dort, völlig fremde. Unser Freund aber hatte, zweieinhalb Monate tief in sein zweites Jahr eingerückt, von der Verwaltung einen anderen Platz zugewiesen bekom-men, an einem Nachbartisch, der schräg vor dem alten stand, weiter gegen die linke Verandatür, zwischen seinem ehemaligen und dem Guten Russentisch, kurzum am Tisch Settembrinis. Ja, an des Humanisten verwaistem Platze saß Hans Castorp jetzt, am Tischende wiederum, gegenüber dem Doktor-Sitz, der an jeder der sieben Tafeln dem Hofrat und seinem Famulus zum Hospitieren aufgespart blieb.
Dort oben, links von dem medizinischen Präsidium, hockte auf mehreren Kissen der bucklige Amateur-Photograph aus Me-xiko, dessen Gesichtsausdruck vermöge sprachlicher Einsamkeit der eines Tauben war, und ihm zur Seite hatte das ältliche Fräu-lein aus Siebenbürgen ihren Platz, das, wie schon Herr Settem-brini geklagt hatte, das Interesse aller Welt für ihren Schwager in Anspruch nahm, obgleich niemand etwas von diesem Men-schen wußte, noch wissen wollte. Ein Stöckchen mit Tulasilber-krücke, dessen sie sich auch bei ihren Dienstpromenaden be-diente, quer im Nacken, sah man sie zu bestimmten Stunden des Tages an der Brüstung ihrer Balkonloge ihre tellerflache Brust in hygienischen Tiefatmungen dehnen. Ein tschechischer Mann saß ihr gegenüber, den man Herr Wenzel nannte, da niemand seinen Familiennamen auszusprechen verstand. Herr Set-tembrini hatte sich seinerzeit zuweilen darin versucht, die krau-se Konsonantenfolge hervorzustoßen, aus der dieser Name be-stand – gewiß nicht in ehrlichem Bemühen, sondern nur um die vornehme Hilflosigkeit seiner Latinität an dem wilden Lautge-strüpp heiter zu erproben. Obwohl feist wie ein Dachs und von einer selbst unter Denen hier oben erstaunlich sich hervortuen-den Eßlust, versicherte der Böhme seit vier Jahren, daß er ster-ben müsse. Bei der Abendgeselligkeit klimperte er zuweilen auf einer bebänderten Mandoline die Lieder seiner Heimat und er-zählte von seiner Zuckerrübenplantage, auf der lauter hübsche Mädchen arbeiteten. Schon in Hans Castorps Nähe folgten dann zu beiden Seiten des Tisches Herr und Frau Magnus, die Bierbrauersehegatten aus Halle. Melancholie umgab dieses Paar at-mosphärisch, da beide lebenswichtige Stoffwechselprodukte, Herr Magnus Zucker, Frau Magnus dagegen Eiweis, verloren. Die Gemütsverfassung, namentlich der bleichen Frau Magnus, schien jedes Einschlages von Hoffnung zu entbehren; Geistes-öde ging wie ein kelleriger Hauch von ihr aus, und fast noch ausdrücklicher als die ungebildete Stöhr stellte sie jene Vereini-gung von Krankheit und Dummheit dar, an der Hans Castorp, getadelt deswegen von Herrn Settembrini, geistigen Anstoß ge-nommen hatte. Herr Magnus war regeren Sinnes und gesprächi-ger, wenn auch nur in der Art, die ehemals Settembrinis literari-sche Ungeduld erregt hatte. Auch neigte er zu Jähzorn und stieß öfters mit Herrn Wenzel aus politischen und sonstigen Anlässen feindlich zusammen. Denn ihn erbitterten die nationalen Aspi-rationen des Böhmen, der sich überdies zum Antialkoholismus bekannte und über den Erwerbszweig des Brauers moralisch Absprechendes äußerte, wogegen dieser mit rotem Kopf die sa-nitäre Unanfechtbarkeit des Getränkes vertrat, mit dem seine Interessen so innig verbunden waren. Bei solchen Gelegenhei-ten hatte früher Herr Settembrini humoristisch ausgleichend ge-wirkt; Hans Castorp aber, an seiner Statt, fand sich wenig ge-schickt und konnte nicht hinreichende Autorität in Anspruch nehmen, ihn darin zu ersetzen.
Nur mit zwei Tischgenossen verbanden ihn persönlichere Beziehungen: A. K. Ferge aus Petersburg, sein Nachbar zur Lin-ken, war der eine, dieser gutmütige Dulder, der unter dem Ge-büsch seines rotbraunen Schnurrbarts hervor von Gummischuh-fabrikation und fernen Gegenden, dem Polarkreis, dem ewigen Winter am Nordkap erzählte, und mit dem Hans Castorp sogar zuweilen einen dienstlichen Lustwandel gemeinsam zurückleg-te. Der andere aber, der sich ihnen dabei, so oft es sich treffen wollte, als Dritter anschloß, und der am oberen Tafelende, gegenüber dem mexikanischen Buckligen, seinen Platz hatte, war der dünnhaarige Mannheimer mit schlechten Zähnen, Wehsal mit Namen, Ferdinand Wehsal und Kaufmann seines Zeichens, er, dessen Augen stets mit so trüber Begierde an Frau Chauchats anmutiger Person gehangen hatten, und der seit Fastnacht Hans Castorps Freundschaft suchte.
Er tat es mit Zähigkeit und Demut, einer von unten blickenden Hingebung, die für den Betroffenen viel Widrig-Schauerliches hatte, da er ihren komplizierten Sinn begriff, der aber menschlich zu begegnen er sich anhielt. Ruhig blickend, da er wußte, daß ein leichtes Zusammenziehen der Brauen genügte, um den elend Empfindenden sich ducken und zurückschrecken zu lassen, duldete er das dienerische Wesen Wehsais, der jede Gelegenheit wahrnahm, sich vor ihm zu verneigen und ihm schönzutun, duldete sogar, daß jener ihm zuweilen beim Lust-wandel den Überzieher trug – mit einer gewissen Andacht trug er ihn über dem Arm – , duldete endlich des Mannheimers Ge-spräch, das trübe war. Wehsal war erpicht, Fragen aufzuwerfen, wie die, ob es Sinn und Verstand habe, einer Frau, die man lie-be, die aber nichts von einem wissen wolle, seine Liebe zu er-klären – die aussichtslose Liebeserklärung, was die Herren davon hielten. Er für seinen Teil halte Höchstes davon, sei der Mei-nung, daß sich unendliches Glück damit verbinde. Wenn näm-lich der Akt des Geständnisses zwar Ekel errege und viel Selbsterniedrigung berge, so stelle er doch für den Augenblick die volle Liebesnähe des begehrten Gegenstandes her, reiße diesen ins Vertrauen, in das Element der eigenen Leidenschaft, und wenn damit freilich alles zu Ende sei, so sei der ewige Verlust mit der Verzweiflungswonne eines Augenblicks nicht über-zahlt; denn das Bekenntnis bedeute Gewalt, und je größer der widerstehende Abscheu dagegen sei, desto genußreicher – . Hier scheuchte eine Verfinsterung von Hans Castorps Miene Wehsal zurück, was aber mehr in Hinsicht auf die Gegenwart des gut-mütigen Ferge geschah, dem, wie er oft betonte, alle höheren und schwierigeren Gegenstände völlig fern lagen, als aus sitten-richterlicher Steifigkeit auf Seiten unseres Helden. Denn, da wir immer gleich weit entfernt bleiben, diesen besser oder schlech-ter machen zu wollen, als er war, so sei mitgeteilt, daß, als der arme Wehsal eines Abends unter vier Augen mit bleichen Wor-ten in ihn drang, ihm von den Erlebnissen und Erfahrungen der nachgesellschaftlichen Fastnacht doch um Gottes willen Näheres zu vertrauen, Hans Castorp ihm mit ruhiger Güte willfahrte, ohne daß, wie der Leser glauben mag, dieser gedämpften Szene irgend etwas niedrig Leichtfertiges angehaftet hätte. Dennoch haben wir Gründe, ihn und uns davon auszuschließen und fü-gen nur noch an, daß Wehsal danach mit verdoppelter Hingabe den Paletot des freundlichen Hans Castorp trug.
Soviel von Hansens neuer Tischgenossenschaft. Der Platz zu seiner Rechten war frei, war nur vorübergehend besetzt, nur ei-nige Tage lang: von einem Hospitanten, wie er es einst gewe-sen, einem Verwandtenbesuch, Gast aus dem Flachlande und Sendboten von dort, wie man sagen mochte, – mit einem Wor-te von Hansens Onkel James Tienappel.
Das war abenteuerlich, daß plötzlich ein Vertreter und Abge-sandter der Heimat neben ihm saß, die Atmosphäre des Alten, Versunkenen, des früheren Lebens, einer tiefliegenden "Ober-welt" noch frisch im Gewebe seines englischen Anzugs tragend. Aber es hatte kommen müssen. Langst hatte Hans Castorp im stillen mit einem solchen Vorstoß des Flachlandes gerechnet und sogar die Persönlichkeit, die sich nun wirklich mit der Er-kundung betraut zeigte, ganz zutreffend dafür in Aussicht ge-nommen, – was eben nicht schwer gewesen war; denn Peter, der seefahrende, kam wenig dafür in Frage, und vom Großonkel Tienappel selbst stand fest, daß keine zehn Pferde ihn je in diese Gegenden schleppen würden, von deren Luftdruckverhältnissen er alles zu fürchten hatte. Nein, James mußte es sein, der sich nach dem Abhandengekommenen im heimatlichen Auftrage umsehen würde; schon früher war er erwartet. Seit aber Joachim allein zurückgekehrt war und im Verwandtenkreis von der hiesigen Sachlage Nachricht gegeben hatte, war der Angriff fäl-lig und überfällig, und so war denn Hans Castorp nicht im ge-ringsten verblüfft, als, knappe vierzehn Tage nach Joachims Ab-reise, der Concierge ihm ein Telegramm überhändigte, das, ah-nungsvoll geöffnet, sich als James Tienappels kurzfristige An-meldung erwies. Er hatte auf Schweizer Boden zu tun und sich zu dem Gelegenheitsausflug in Hansens Höhe entschlossen. Übermorgen war er zu erwarten.
"Gut", dachte Hans Castorp. "Schön", dachte er. Und sogar etwas wie "Bitte sehr!" fügte er innerlich hinzu. "Wenn du eine Ahnung hättest!" sagte er in Gedanken zu dem sich Nähernden. Mit einem Worte, er nahm die Meldung mit großer Ruhe auf, gab sie übrigens an Hofrat Behrens und an die Verwaltung wei-ter, ließ ein Zimmer bereitstellen – das Zimmer Joachims war noch zur Verfügung – und fuhr am übernächsten Tage, um die Stunde seiner eigenen Ankunft, abends gegen acht also, es war schon dunkel, mit demselben harten Vehikel, in dem er Joachim fortgeleitet, zum Bahnhof "Dorf", um den Sendboten des Flachlandes abzuholen, der nach dem Rechten sehen wollte.
Zinnoberrot, ohne Hut, im bloßen Anzug, stand er am Rande des Bahnsteiges, als das Züglein einrollte, stand unter dem Fen-ster seines Verwandten und forderte ihn auf, nur immer heraus-zukommen, denn er sei da. Konsul Tienappel – er war Vizekon-sul, entlastete den Alten auch auf diesem ehrenamtlichen Ge-biete sehr dankenswert – , verfroren in seinen Wintermantel ge-hüllt, denn wirklich war der Oktoberabend empfindlich kalt, nicht viel fehlte und es hätte von klarem Frost die Rede sein können, ja, gegen Morgen würde es sicher frieren, entstieg dem Abteil in überraschter Heiterkeit, die er in den etwas dünnen, sehr zivilisierten Formen des feinen nordwestdeutschen Herrn verlautbarte, begrüßte den vetterlichen Neffen unter betonten Ausdrücken der Genugtuung über sein vorzügliches Aussehen, sah sich vom Hinkenden aller Sorge um sein Gepäck überhoben und erkletterte draußen mit Hans Castorp den hohen und har-ten Sitz ihres Gefährtes. Unter reichem Sternenhimmel fuhren sie dahin, und Hans Castorp, den Kopf zurückgelegt und den Zeigefinger in der Luft, erläuterte dem Onkel-Cousin die obe-ren Gefilde, faßte mit Wort und Gebärde ein und das andere funkelnde Sternbild zusammen und nannte Planeten bei Na-men, – während jener, aufmerksam mehr auf die Person seines Begleiters als auf den Kosmos, sich innerlich sagte, daß es zwar möglich sei und nicht geradezu verrückt anmute, jetzt, hier und sofort gerade von Sternen zu sprechen, daß aber doch manches andere näher gelegen hätte. Seit wann er denn da oben so sicher Bescheid wisse, fragte er Hans Castorp; worauf dieser erwiderte, das sei ein Erwerb der abendlichen Liegekur auf dem Balkon im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. – Wie? bei Nacht liege er auf dem Balkon? – O ja. Und der Konsul werde es auch tun. Es werde ihm nichts anderes übrigbleiben.
"Gewiß, selbstvers-tändlich", sagte James Tienappel entgegenkommend und etwas eingeschüchtert. Sein Pflegebruder sprach ruhig und eintönig. Ohne Hut, ohne Paletot saß er neben ihm in der frostnahen Frische des Herbstabends. "Dich friert wohl gar nicht?" fragte ihn James; denn er selbst zitterte unter dem zolldicken Tuch seines Mantels, und seine Sprechweise hatte etwas zugleich Hastiges und Lahmes, da seine Zähne eine! Neigung bekundeten, aneinanderzuschlagen. "Uns friert nicht", antwortete Hans Castorp ruhig und kurz.
Der Konsul konnte ihn nicht genug von der Seite betrachten.
Hans Castorp erkundigte sich nicht nach den Verwandten und Bekannten zu Hause. Grüße von dort, die James übermittelte, auch diejenigen Joachims, der bereits beim Regiment sei und vor Glück und Stolz leuchte, empfing er ruhig dankend, ohne auf die Umstände der Heimat weiter einzugehen. Beunruhigt durch ein unbestimmtes Etwas, von dem er sich nicht zu sagen wußte, ob es von dem Neffen ausging oder etwa in ihm selbst, dem physischen Befinden des Reisenden, seinen Ursprung habe, blickte James umher, ohne von der Hochtallandschaft viel er-kennen zu können, und zog tief die Luft ein, die er ausatmend für herrlich erklärte. Gewiß, antwortete der andere, nicht um-sonst sei sie ja weit berühmt. Sie habe starke Eigenschaften. Ob-gleich sie die Allgemeinverbrennung beschleunige, setze der Körper in ihr doch Eiweiß an. Krankheiten, die jeder Mensch latent in sich trage, sei sie zu heilen imstande, doch befördere sie sie zunächst einmal kräftig, bringe sie vermöge eines allge-meinen organischen An – und Auftriebes sozusagen zu festli-chem Ausbruch. – Er möge erlauben, – festlich? – Allerdings. Ob jener nie bemerkt habe, daß der Ausbruch einer Krankheit etwas Festliches habe, eine Art Körperlustbarkeit darstelle. –"Gewiß, selbstvers-tändlich", hastete der Onkel mit unbe-herrschtem Unterkiefer und teilte dann mit, daß er acht Tage bleiben könne, das heißt: eine Woche, sieben Tage also, viel-leicht auch nur sechs. Da er, wie gesagt, Hans Castorps Aussehen, dank einem Kuraufenthalt, der sich ja über alles Erwarten in die Länge gezogen habe, hervorragend gut und gekräftigt fin-de, nehme er an, daß der Neffe gleich mit ihm hinunter nach Hause fahren werde.
"Na, na, nur nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand", sagte Hans Castorp. Onkel James rede recht wie einer von un-ten. Er solle sich hier bei uns nur erst mal ein bißchen umsehen und einleben, dann werde er seine Ideen schon ändern. Es kom-me auf restlose Heilung an, die Restlosigkeit sei das Entschei-dende, und ein halbes Jahr habe Behrens ihm neulich noch auf-gebrummt. Hier redete der Onkel ihn mit "Junge" an und fragte, ob er verrückt sei. "Bist du denn ganz verrückt?" fragte er. Ein Ferienaufenthalt von fünf Vierteljahren sei das nachgerade, und nun noch ein halbes! Man habe in des allmächtigen Gottes Namen doch nicht soviel Zeit! – Da lachte Hans Castorp ruhig und kurz zu den Sternen empor. Ja Zeit! Was nun gerade diese betreffe, die menschliche Zeit, so werde James seine mitge-brachten Begriffe zu allererst revidieren müssen, bevor er hier oben darüber mitrede. – Er werde in Hansens Interesse schon morgen ein ernstes Wörtchen mit dem Herrn Hofrat reden, versprach Tienappel. –"Das tu'!" sagte Hans Castorp. "Er wird dir gefallen. Ein interessanter Charakter. Forsch und melancho-lisch zugleich." Und dann wies er auf die Lichter von Sanatorium Schatzalp hin und erzählte beiläufig von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinunterbefördere.
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