Читать книгу «Der Zauberberg. Volume 2» онлайн полностью📖 — Томаса Манна — MyBook.

"Meinem Votum. Schön!" Und er zog ihn am Arme an sich, horchte und klopfte. Er diktierte nicht. Es ging ziemlich schnell. Als er fertig war, sagte er:

"Sie können reisen."

Elans Castorp stotterte:

"Das heißt … wieso? Bin ich denn gesund?"

"Ja, Sie sind gesund. Die Stelle links oben ist nicht mehr der Rede wert. Ihre Temperatur paßt nicht zu der Stelle. Woher sie kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, daß sie wei-ter nichts zu bedeuten hat. Meinetwegen können Sie reisen."

"Aber … Herr Hofrat … Das ist vielleicht im Augenblick nicht Ihr voller Ernst?"

"Nicht mein Ernst? Wieso denn? Was denken Sie denn? Was denken Sie überhaupt so beiläufig von mir, möchte ich wissen? Wofür halten Sie mich? Für einen Hüttchenbesitzer?!"

Es war Jähzorn. Die Bläue in des Hofrats Gesicht hatte sich ins Veilchenfarbene vertieft durch lodernden Zudrang, die ein-seitige Schürzung seiner Lippe mit dem Schnurrbärtchen sich heftig verstärkt, so daß die seitlichen Oberzähne sichtbar wur-den, er schob schon den Kopf vor, wie ein Stier, seine Augen quollen tränend und blutig.

"Das verbitte ich mir!" schrie er. "Ich bin erstens überhaupt kein Besitzer! Ich bin Angestellter hier! Ich bin Arzt! Ich bin nur Arzt, verstehen Sie mich?! Ich bin kein Kuppelonkel! Ich bin kein Signor Amoroso auf dem Toledo im schönen Neapel, verstehen Sie mich wohl?! Ich bin ein Diener der leidenden Menschheit! Und sollten Sie sich eine andere Auffassung gebil-det haben von meiner Person, dann können Sie beide zum Kuk-kuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde, ganz nach belie-biger Auswahl! Glückliche Reise!"

Mit langen und breiten Schritten ging er zur Tür hinaus, durch die Tür, die ins Vorderzimmer des Durchleuchtungsraumes führte, und ließ sie hinter sich zukrachen.

Rat suchend blickten die Vettern auf Dr. Krokowski, der sich jedoch in seine Papiere vertieft und vergraben zeigte. Sie spute-ten sich, in ihre Kleider zu kommen. Auf der Treppe sagte Hans Castorp:

"Das war ja schrecklich. Hast du ihn schon mal so gesehen?"

"Nein, so noch nicht. Das sind so Vorgesetzten-Anfälle. Das einzig Richtige ist, daß man sie in einwandfreier Haltung über sich ergehen läßt. Er war ja natürlich gereizt durch die Ge-schichte mit Polypraxios und der Nölting. Aber hast du gese-hen", fuhr Joachim fort, und man merkte, wie die Freude dar-über, daß er seine Sache durchgefochten, in ihm aufstieg und ihm die Brust beengte, "hast du gesehen, wie er klein beigab und kapitulierte, als er einsah, daß es mein Ernst war? Man muß nur Schneid zeigen, sich nur nicht zudecken lassen. Nun habe ich sozusagen Erlaubnis, – er selbst hat gesagt, daß ich mich wahrscheinlich herausbeißen werde, – und über acht Tage rei-sen … in drei Wochen bin ich beim Regiment", verbesserte er sich, indem er Hans Castorp aus dem Spiele ließ und seine freu-debebende Aussage auf die eigene Person beschränkte.

Hans Castorp schwieg. Er sagte nichts über Joachims "Er-laubnis", noch über seine eigene, von der ja allenfalls auch zu reden gewesen wäre. Er machte Toilette zur Liegekur, steckte das Thermometer in den Mund, schlug mit kurzen und sicheren Griffen, mit voll ausgebildeter Kunst, jener geheiligten Praktik gemäß, von der im Flachlande niemand eine Ahnung hatte, die beiden Kamelhaardecken um sich und lag dann still, als eben-mäßige Walze, auf seinem vorzüglichen Liegestuhl in der kalten Feuchte des Frühherbstnachmittags.

Die Regenwolken hingen tief, die Phantasiefahne drunten war eingezogen, Schneereste lagen auf den nassen Zweigen der Edeltanne. Aus der unteren Liegehalle, von wo vor Jahr und Tag zuerst Herrn Albins Stimme an sein Ohr geschlagen, drang leises Gespräch zu dem Diensttuenden herauf, dessen Finger und Angesicht sich in Kürze naßkalt versteiften. Er war es ge-wohnt und wußte der hiesigen, ihm längst zur einzig denkbar gewordenen Lebenshaltung Dank für die Gunst, in Geborgen-heit liegen und alles bedenken zu dürfen.

Es war entschieden, Joachim würde reisen. Rhadamanth hatte ihn entlassen, – nicht rite, nicht als gesund, aber mit halber Bil-ligung entlassen eben doch, auf Grund und in Anerkennung seiner Standhaftigkeit. Er würde hinunterfahren, mit der Schmalspurbahn in die Tiefe nach Landquart, nach Romanshorn, dann über den weiten, abgründigen See, über den im Gedichte der Reiter ritt, und durch ganz Deutschland nach Hause. Er würde dort leben, in der Welt des Flachlandes, unter lauter Menschen, die keine Ahnung hatten, wie man leben mußte, die nichts wußten vom Thermometer, von der Kunst des Sichein-wickeins, vom Pelzsack, vom dreimaligen Lustwandel, von … es war schwer zu sagen, schwer aufzuzählen, wovon alles sie drunten nichts wußten, aber die Vorstellung, daß Joachim, nachdem er länger als anderthalb Jahre hier oben verbracht, un-ter den Unwissenden leben sollte, – diese Vorstellung, die nur Joachim betraf, und nur ganz von fern und versuchsweise auch ihn, Hans Castorp, – verwirrte ihn so, daß er die Augen schloß und eine abwehrende Handbewegung machte. "Unmöglich, unmöglich", murmelte er.

Da es denn aber unmöglich war, so würde er also allein und ohne Joachim hier oben weiter leben? Ja. Wie lange? Bis Beh-rens ihn als geheilt entließ, und zwar im Ernst, nicht so wie heute. Aber erstens war das ein Zeitpunkt, zu dessen Bestimmung man nur, wie Joachim einst bei irgendeiner Gelegenheit, in die Luft hinein die Gebärde des Unabsehbaren machen konnte, und zweitens: würde das Unmögliche dann möglicher geworden sein? Im Gegenteil eher. Und soviel war loyalerweise zuzugeben, daß eine Hand ihm geboten war, jetzt, wo das Unmögliche vielleicht noch nicht ganz so unmöglich war, wie es später sein würde, – eine Stütze und Führung für ihn, durch Joachims wilde Abreise, auf dem Wege ins Flachland, den er von sich aus in Ewigkeit nie zurückfinden würde. Wie würde humanistische Pädagogik ihn mahnen, die Hand zu ergreifen und die Führung anzunehmen, wenn die humanistische Pädagogik von der Gelegenheit erfuhr! Aber Herr Settembrini war nur ein Vertreter – von Dingen und Mächten, die hörenswert wa-ren, aber nicht allein, nicht unbedingt; und auch mit Joachim stand es so. Er war Militär, jawohl. Er reiste ab – beinahe in dem Augenblick, wo die hochbrüstige Marusja zurückkehren sollte (am ersten Oktober kehrte sie bekanntlich zurück), wäh-rend ihm, dem zivilistischen Hans Castorp, die Abreise nament-lich und abgekürzt gesprochen darum unmöglich schien, weil er auf Clawdia Chauchat warten mußte, von deren Rückkehr bei weitem noch nichts verlautete. "Das ist nicht meine Auffas-sung", hatte Joachim gesagt, als Rhadamanth ihm von Desertion gesprochen hatte, was zweifellos in Hinsicht auf Joachim nur Kohl und Geschwafel gewesen war von des verdüsterten Hof-rats Seite. Aber für ihn, den Zivilisten, lagen die Dinge denn doch wohl anders. Für ihn (ja, ganz ohne Zweifel, so war es! Um diesen entscheidenden Gedanken aus seinem Gefühl em-porzuarbeiten, hatte er sich heute hier ins Naßkalte gelegt) – für ihn wäre es wirklich Desertion gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen und wilde oder halbwilde Abreise ins Flachland zu hal-ten, Desertion von ausgebreiteten Verantwortlichkeiten, die ihm aus der Anschauung des Hochgebildes, genannt Homo Dei, hier oben erwachsen, Verrat an schweren und erhitzenden, ja seine natürlichen Kräfte übersteigenden, doch abenteuerlich be-glückenden Regierungspflichten, denen er hier in der Loge und am blau blühenden Orte oblag.

Er riß das Thermometer aus dem Munde, so heftig, wie vor-her nur einmal: nach erster Benutzung, nachdem die Oberin ihm eben das zierliche Werkzeug verkauft, und blickte mit ebensolcher Begierde wie damals darauf nieder. Merkurius war kräftig emporgewandert, er zeigte siebenunddreißigacht, fast – neun.

Hans Castorp warf die Decken von sich, sprang auf und tat einen schnellen Gang ins Zimmer, zur Korridortür und zurück. Dann, wieder in horizontaler Lage, rief er leise Joachim an und fragte nach dessen Kurve.

"Ich messe nicht mehr", antwortete Joachim.

"Na, ich habe Tempus", sagte Hans Castorp, das Wort in Nachfolge Frau Stöhrs nach Analogie von "Schampus" behandelnd; worauf Joachim hinter der Glaswand sich schweigend verhielt.

Auch später sagte er nichts an diesem Tag und den folgenden, forschte mit Worten nicht nach des Vetters Plänen und Ent-schlüssen, die sich ganz von selbst, bei knapp gesetzter Frist, of-fenbaren mußten: durch Handlungen oder das Unterlassen von Handlungen, und das taten sie, nämlich durch letzteres. Er schien es mit dem Quietismus zu halten, der hatte wissen wol-len, daß Handeln Gott beleidigen heiße, der es allein tun wolle. Jedenfalls hatte Hans Castorps Aktivität in diesen Tagen sich auf einen Besuch bei Behrens beschränkt, eine Rücksprache, von der Joachim wußte, und deren Verlauf und Ergebnis er sich an fünf Fingern ausrechnen konnte. Sein Vetter hatte erklärt, er erlaube sich, auf des Hofrats frühere vielfältige Ermahnungen, seinen Fall hier gründlich auszuheilen, damit er niemals wiederkom-men müsse, mehr Gewicht zu legen, als auf das rasche Wort einer unwilligen Minute; er habe 37,8, er könne sich nicht als rite entlassen fühlen, und wenn des Hofrats Äußerung von neulich nicht etwa als Relegation zu verstehen gewesen sei, zu welcher Maßregel Anlaß gegeben zu haben er, Sprecher, sich nicht be-wußt sei, so habe er, nach ruhiger Überlegung und in bewußtem Gegensatz zu Joachim Ziemßen, beschlossen, noch hier zu bleiben und seine völlige Entgiftung abzuwarten. Worauf der Hofrat ziemlich wörtlich erwidert hatte: "Bon und schön!" und "Nichts für ungut!" und: das heiße er wie ein vernünftiger Kerl reden, und: er habe es doch gleich gesehen, daß Hans Castorp mehr Talent zum Patienten habe, als dieser Durchgänger und Haudegen da. Und so fort.

Dies also war, nach Joachims annähernd genauer Kalkulation, der Hergang des Gespräches gewesen, und so sagte er nichts und stellte eben nur schweigend fest, daß Hans Castorp sich seinen die Abreise vorbereitenden Schritten nicht anschloß. Wieviel hatte aber auch der gute Joachim mit sich selber zu tun! Er konnte sich wirklich um Schicksal und Verbleib des Vetters nicht weiter kümmern. Ein Sturm wogte in seiner Brust, – man kann es sich denken. Nur gut, vielleicht, daß er sich nicht mehr maß, sondern sein Instrument, angeblich, indem er es hatte fallen lassen, zerbrochen hatte: Messungen hätten beirrende Er-gebnisse zeitigen mögen – , so furchtbar aufgeregt, bald dunkel glühend, bald bleich vor Freude und Spannung, wie Joachim war. Er konnte nicht mehr liegen; den ganzen Tag ging er in seinem Zimmer auf und ab, wie Hans Castorp hörte: zu all den Stunden, viermal am Tage, in welchen auf "Berghof" die Hori-zontale herrschte. Anderthalb Jahre! Und nun hinunter ins Flachland, nach Hause, nun wirklich zum Regiment, wenn auch nur mit halber Erlaubnis! Das war keine Kleinigkeit, in keinem Sinne, Hans Castorp fühlte es dem ruhelos wandernden Vetter nach. Achtzehn Monate, den vollen Jahreszirkel und dann die Hälfte noch einmal durchlaufen hier oben, tief eingelebt; eingefahren in dieses Ordnungsgeleis, diesen unverbrüchlichen Le-bensgang, den er in siebenmal siebenzig Tagen zu allen Gezei-ten erprobt, – und nun nach Hause in die Fremde, zu den Un-wissenden! Welche Akklimatisationsschwierigkeiten mochten da drohen? Und durfte man sich wundern, wenn Joachims gro-ße Aufregung nicht nur aus Freude bestand, sondern auch Ban-gigkeit, Weh des Abschieds vom durch und durch Gewohnten ihn durch sein Zimmer trieb? – Von Marusja hier ganz zu schweigen.

Aber die Freude überwog. Herz und Mund gingen dem gu-ten Joachim über davon; er sprach von sich, er ließ des Vetters Zukunft auf sich beruhen. Er sprach davon, wie neu und er-frischt alles sein werde, das Leben, er selbst, die Zeit – jeder Tag, jede Stunde. Solide Zeit werde er wieder haben, langsam gewichtige Jugendjahre. Er sprach von seiner Mutter, Hans Ca-storps Stieftante Ziemßen, die ebenso sanfte, schwarze Augen hatte, wie Joachim, und die dieser all die Bergzeit her nicht gesehen, da sie, hingehalten von Monat zu Monat, von Halbjahr zu Halbjahr gleich ihm, zu einem Besuche des Sohnes sich nie entschlossen hatte. Er sprach mit begeistertem Lächeln vom Fahneneid, den er nun baldigst ablegen würde – : in Gegenwart der Fahne wurde er unter feierlichen Umständen geleistet, ihr selbst, der Standarte wurde er zugeschworen. "Nanu?" fragte Hans Castorp. "Ernstlich? Der Stange? Dem Fetzen Tuch?" – Ja, allerdings; und bei der Artillerie dem Geschütz, symbolischer-weise. – Das seien ja schwärmerische Sitten, meinte der Zivilist, empfindsamfanatische, könne man sagen; wozu Joachim stolz und glücklich mit dem Kopf nickte.

Er ging auf in Vorbereitungen, er beglich seine Schlußnota auf der Verwaltung, begann schon Tage vor dem selbstgesetzten Termin mit dem Kofferpacken. Sommer – und Winterzeug pack-te er ein und ließ den Pelzsack nebst den Kamelhaardecken vom Hausdiener in Sackleinen nähen: vielleicht, daß er sie im Ma-növer einmal gebrauchen konnte. Er fing an, Lebewohl zu sagen. Er machte Abschiedsvisite bei Naphta und Settembrini – allein, denn sein Vetter schloß sich nicht an bei diesem Gange und fragte auch nicht, was Settembrini zu Joachims bevorste-hender Abreise und Hans Castorps bevorstehender Nicht-Abreise gemeint und geäußert: ob er nun "Szieh, szieh" oder "Szo, szo" gesagt hatte, oder beides, oder "Poveretto", das mußte ihm gleichgültig bleiben.

Dann kam der Vorabend der Abreise, wo Joachim alles zum letztenmal absolvierte, jede Mahlzeit, jede Liegekur, jeden Lust-wandel, und von den Ärzten, der Oberin Urlaub nahm. Und es tagte der Morgen selbst: heißäugig und mit kalten Händen kam Joachim zum Frühstück, denn er hatte die ganze Nacht nicht ge-schlafen, nahm auch kaum einen Bissen zu sich und schnellte, als die Zwergin meldete, das Gepäck sei aufgeschnallt, hastig vom Stuhl, um von den Tischgenossen zu scheiden. Frau Stöhr vergoß Tränen, die leicht fließenden, salzlosen Tränen der Un-gebildeten, beim Lebewohl und zeigte gleich darauf hinter Joachims Rücken der Lehrerin mit Kopfschütteln und gespreizt hin und her gedrehter Hand eine faule Miene voll überaus or-dinärer Zweifelsucht in Hinsicht auf Joachims Befugnis zur Ab-reise und auf sein Wohlergehen. Hans Castorp sah es, indem er im Stehen seine Tasse austrank, um dem Vetter auf dem Fuß zu folgen. Noch gab es Trinkgelder zu reichen, den amtlichen Ab-schiedsgruß eines Gesandten der Verwaltung im Vestibül zu er-widern. Wie immer standen Patienten bereit, der Abfahrt zuzu-sehen: Frau Iltis mit dem "Sterilett", die elfenbeinfarbene Levi, der ausschweifende Popow mit seiner Braut. Sie winkten mit Tüchern, während der Wagen, am Hinterrad gebremst, die An-fahrt hinabschurrte. Joachim hatte Rosen erhalten. Er trug einen Hut auf dem Kopf Hans Castorp nicht.

Der Morgen war prächtig, der erste sonnige nach langer Trü-be. Das Schiahorn, die Grünen Türme, die Kuppe des Dorfber-ges standen unveränderlich wahrzeichenhaft vor der Bläue, und Joachims Augen ruhten darauf. Fast schade, meinte Hans Castorp, daß gerade zur Abreise so schönes Wetter geworden. Es läge Bosheit darin, und ein recht unwirtlicher Schlußeindruck erleichtere jede Trennung. Worauf Joachim: der Erleichterung bedürfe er nicht, und das sei vorzügliches Ausbildungswetter, er könne es drunten wohl brauchen. Sonst sprachen sie wenig. Wie alles lag für jeden von beiden und zwischen ihnen, gab es frei-lich nichts Rechtes zu sagen. Auch hatten sie vor sich den Hin-kenden auf dem Bock neben dem Kutscher.

Hochsitzend, gestoßen auf den harten Kissen des Kabrioletts, hatten sie den Wasserlauf, das schmale Geleise zurückgelassen, fuhren sie hin auf der unregelmäßig bebauten, der Eisenbahn gleichlaufenden Straße und hielten auf steinigem Platz vorm Bahnhofsgebäude von "Dorf", das nicht viel mehr als ein Schuppen war. Hans Castorp erkannte alles mit Schrecken wie-der. Seit seiner Ankunft vor dreizehn Monaten, bei einfallender Dämmerung, hatte er die Station nicht wieder gesehen. "Hier bin ich ja angekommen", sagte er überflüssigerweise, und Joachim antwortete nur: "Tja, das bist du" und entlohnte den Kutscher.

Der rührige Hinkende besorgte alles, den Fahrschein, das Gepäck: Sie standen beieinander auf dem Perron, am Miniaturzuge, neben dem kleinen, grau gepolsterten Wagenabteil, worin Joachim mit Mantel, Plaidrolle und Rosen einen Platz belegt hatte. "Na, dann schwöre du nur deinen schwärmerischen Eid!" sagte Hans Castorp, und Joachim erwiderte: "Wird gemacht." Was noch? Letzte Grüße trugen sie einander auf, Grüße an die dort unten, an die hier oben.

Dann zeichnete Hans Castorp nur noch mit seinem Stock auf dem Asphalt. Als zum Einsteigen gerufen wurde, fuhr er auf, sah Joachim an und dieser ihn. Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lächelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. "Hans!" sagte er – allmächtiger Gott! hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! Nicht mit "Du" oder "Mensch", wie sie es ihrer Lebtag gehalten hatten, sondern aller Sittensprödigkeit zum Trotz und peinlichst überschwenglicher Weise mit Vornamen! "Hans" sagte er und drückte mit dringli-cher Angst dem Vetter die Hand, während dieser bemerken mußte, daß dem Übernächtigten, Reisefiebrigen, Erschütterten das Genick zitterte, wie ihm beim "Regieren" –"Hans", sagte er inständig, "komm bald nach!" Dann schwang er sich aufs Tritt-brett. Die Tür schlug zu, es pfiff, die Wagen stießen aneinander, die kleine Lokomotive zog an, der Zug entglitt. Der Reisende winkte durchs Fenster mit dem Hut, der Zurückbleibende mit der Hand. Zerwühlten Herzens stand er noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zurück, den Joachim ihn vor Jahr und Tag geführt.