Meinem besten Freunde, dem Staatsrat Frederik Hegel, zur Erinnerung
Aulestad, 11. September 1889.
Nie warst Du hier; doch fast beständig
Auf Schritt und Tritt begegn' ich Dir.
Es ist kein Weg, kein Zimmer hier,
Wo Dein Gedächtnis nicht lebendig
Und mich umhegt seit jenen Jahren,
Da Deine Treue, Deine Tat
In meinem Kampf mir Heimat waren.
Wie oft, als ich dies Buch geschrieben,
Sah mir Dein warmes Auge zu;
Da waren eins wir, ich und Du
Und das, was still zum Licht getrieben.
Weil drum im Buch sich vielfach spiegelt
Dein frischer Glaub' und echter Sinn, —
Mit Deinem Namen sei's besiegelt.
Im Tauwetter, auf der Felsenkuppe nach der See zu, stand im letzten Sonnenglanz ein vierzehnjähriger Junge, ganz in sich versunken. Er blickte gen Westen übers Meer hinaus, er blickte gen Osten, auf die Stadt, den Strand, die mächtigen Berge, hinter denen noch höhere Felsengipfel emporragten. Alles in klarer Luft.
Der Sturm hatte lange und furchtbarer gewütet, als die ältesten Leute sich entsinnen konnten. Trotz der neuen Mole hatten sich Schiffe im Hafen losgerissen und waren untergegangen. Der Telegraph meldete von Schiffbrüchen die Küste entlang; in der ganzen Umgegend gab es nichts als zerrissene Netze, fortgeschwemmte Fischreusen, verschwundene Bootstege. Und immer noch hatten die Leute Angst, das Schlimmste komme noch erst.
Jetzt endlich – seit ein paar Stunden – war es vorüber; der Sturm hatte sich gelegt, die Windstöße, die ruckweise aufeinander gefolgt waren, hörten auf; kaum noch ein letzter Nachhall war zu spüren.
Nur das Meer wollte nicht gehorchen. Die Tiefen aufrühren und dann einfach davonlaufen – das geht doch nicht! Wellenzüge, soweit das Auge reichte, höher als haushoch, kamen in endlosen Reihen, mit schaumweißen Kronen und donnerndem Fall. Über Stadt und Strand hin dröhnte ihr Tosen, gewaltig, dumpfrollend, wie Bergrutsche in der Ferne.
Jedesmal, wenn die Wogen in voller Höhe gegen die Klippen stürmten, spritzte der Gischt meterhoch empor; von weitem sah es aus, wie wenn weiße Meeresungeheuer der alten Sagen hier ans Land emporzuklimmen versuchten. Aber nur vereinzelte salzige Spritzer gelangten an ihr Ziel. Sie brannten dem Knaben, der da stand, auf der Wange; doch er rührte sich nicht vom Fleck.
Gewöhnlich sagten die Leute, nur der tollste Weststurm vermöchte den Wellenschaum so hoch emporzuschleudern; heute kam er bei stiller Luft. Das hatte nur einer erlebt; und das war der Junge!
Weit draußen im Westen verflossen Himmel und Meer in der Glut der untertauchenden Sonne. Etwas wie ein goldenes Friedensreich breitete sich da hinten aus. Alle die meerschwarzen, weißköpfigen Wellen, die sich, soweit der Blick reichte, von dort heranwälzten, waren vertriebene Aufrührer. Reihe auf Reihe kamen sie daher, unter millionenstimmigem Protest.
Eben jetzt hatte der Farbenkontrast seinen Höhepunkt erreicht. Keine Vermittelung mehr. Nicht der leiseste rote Schimmer drang mehr bis herüber. Dort die warme Glut, hier das kalte Schwarzblau über dem Meer und dem Schneemorast am Land. Was man hoch droben von der Stadt sah, kroch in sich zusammen und ward immer kleiner mit jedem Male. Der Junge wandte den Blick vom Meere landwärts. Und immer unruhiger wurde er. Das kündete Unheil. Sollte wirklich noch mehr kommen? Seine Phantasie war aufgeschreckt und, übernächtig wie er war, hatte er keine Widerstandskraft.
Draußen die Pracht begann zu erlöschen; alle Farben verblichen gleichzeitig. Das Brüllen von unten, wo die Ungeheuer heraufwollten, klang stärker; oder war er nur hellhöriger geworden? Galt ihm das? Ihm? Was hatte er denn wieder getan? Oder würde er vielleicht bald irgend etwas anstellen? Schon öfter war diese unklare Angst eine böse Vorbedeutung gewesen!
Nicht der Sturm allein hatte ihn geschreckt. Vor kurzem hatte ein Laienprediger geweissagt, die Welt werde untergehen. Alle Anzeichen der Bibel täten genau stimmen, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel seien nicht mehr zu mißdeuten. Der Prediger erregte solches Aufsehen, daß die Zeitungen sich der Sache bemächtigten und erklären mußten, ganz dasselbe sei schon unendlich oft prophezeit worden, und die Zahlen bei Jeremias und Daniel hätten immer gestimmt. Aber als der Orkan losbrach, entsetzlicher denn seit Menschengedenken, als Schiffe sich losrissen und gegen die Brücken geschleudert wurden, zerschmettert und zerschmetternd, und zumal als die Finsternis der Nacht das Erdreich bedeckte, und sämtliche Lichter in den Laternen erloschen … als man die Brandung bloß noch hörte, ohne sie mehr zu sehen … dazwischen Kommandorufe, Getöse, Gekreische, langgedehntes Jammergeschrei … und dabei in den Straßen das Entsetzen, wenn ganze Dächer abgehoben wurden, die Häuser erbebten, Scheiben klirrten, Steine durch die Luft flogen, Menschen flüchteten, ferne Rufe die Angst erhöhten … ja, da gedachten wohl manche der Worte des Laienpredigers: So helf uns Gott! Dies ist der jüngste Tag! Bald werden die Sterne fallen! Besonders die Kinder waren in einer Todesangst. Die Eltern hatten keine Zeit, bei ihnen zu bleiben. Denn noch in der letzten Stunde war man einigermaßen im Zweifel, ob es auch wirklich die letzte Stunde war, und nach alter Gewohnheit behielt die Sorge um den irdischen Besitz doch die Oberhand. Man mußte verstecken und abschließen und eilen, und nach dem Feuer sehen und an allen Ecken und Enden sein. Den Kindern aber steckte man Gebet- und Gesangbücher in die Hände und hieß sie lesen, was da von Erdbeben und anderen Plagen und vom jüngsten Tage stand; man schlug ihnen rasch die Stellen auf und stürzte davon. Als ob die Kinder jetzt hätten lesen können!
Sie verkrochen sich lieber im Bett und zogen die Decke über den Kopf; manche nahmen den Hund mit oder die Katze; sie fühlten sich geborgener so; sie wollten zusammen sterben! Aber oft wollten Hund und Katze nicht unter der Decke sterben, und dann setzte es einen Kampf.
Der Junge, der oben auf der höchsten Felsenkuppe stand, war vor Schreck überhaupt rein von Sinnen gewesen. Aber er war einer von denen, die das Entsetzen von einem Ort zum anderen hetzte, vom Haus auf die Straße, von der Straße nach dem Hafen, vom Hafen wieder nach Hause. Nicht weniger als dreimal war sein Vater hinter ihm her gewesen, hatte ihn eingefangen, ja, sämtliche Türen hinter ihm verrammelt; aber entwischt war er doch. So etwas blieb doch sonst nicht unbestraft; kein Junge wurde strenger gehalten und so reichlich mit Prügel bedacht wie Edvard Kallem. Aber ein Gutes hatte der Sturm doch gehabt: Prügel setzte es nicht in dieser Nacht.
Die Nacht verging, und noch standen die Sterne am Himmel; der Tag kam, und die Sonne schien hell wie immer. Auch der Sturm ging vorüber, und mit ihm der letzte Rest von Angst.
Doch hat die Angst einmal ein Menschengemüt so grenzenlos beherrscht, da bleibt der Schrecken vor dem Schrecken zurück. Nicht allein in bösen Träumen, nein, auch am Tage, wenn man sich am allersichersten wähnt, lauert sie in unserer Phantasie, um beim geringsten Außergewöhnlichen über uns herzufallen, uns mit tückischen Augen und Nebelodem zu verschlingen, uns bisweilen in den Wahnsinn zu treiben …
Da stand der Knabe; es war ihm unbehaglich zu Mut in der sinkenden Sonne und beim Toben der Brandung, – und da war auch schon die Höllenangst wieder über ihm; die Schrecken des jüngsten Tages umbrausten ihn. Er begriff nicht, wie er sich so gefährlich weit hier herauf hatte wagen können, und noch dazu allein! Wie gelähmt fühlte er sich; er wagte nicht, den Fuß zu heben – wer weiß, ob er nicht beobachtet wurde; Feindesmächte waren um ihn her. Er betete heimlich zu seiner verstorbenen Mutter: wenn das wirklich das Ende sei, und die Auferstehung sie befreie, so möge sie hier heraufkommen zu ihm; nicht zu seiner Schwester – die hatte ja Rektors; er aber hatte niemand.
Doch alles blieb beim alten. Nur der Schimmer im Westen verblich, und im Osten dunkelte es; der Geist der Kälte schritt unerbittlich weiter und wurde Alleinherrscher; das gab eine gleichmäßige Größe und die Sicherheit der Einheit. Nach und nach schöpfte Edvard wieder soviel Mut, daß er freier zu atmen wagte – erst versuchsweise, dann ganz tief, viele Male. Jetzt fing er an, sich zu bewegen, leise, unmerklich und nicht ohne Angst, daß die Unsichtbaren hier oben Verdacht schöpfen könnten, – denn sie wollten ihn doch haben. Behutsam glitt er dem Abstieg zu und fort vom Felshang. Keine Flucht, behüte! Er wußte gar nicht einmal, ob er überhaupt gehen wollte; er wollte es nur versuchen, – konnte ja schließlich zurückkommen. Aber der Abstieg hier war nicht leicht und mußte eigentlich vor Einbruch der Dunkelheit gemacht werden; und es wurde so furchtbar schnell dunkel jetzt. Wenn er nur so weit wäre, daß er den Fußweg, der vom Fischerdorf drunten über den Berg heraufführte, wieder erreicht hätte, ja, dann war alle Gefahr überstanden; aber hier – nur vorsichtig, vorsichtig, ein ganz kleinwinziger Schritt, und noch einer, und noch ein kleiner! Nur zum Versuch; er würde schon wiederkommen!
Doch kaum hatte er auf solche Art den obersten und schwierigsten Teil der Kuppe zurückgelegt und fühlte sich sicher vor den Mächten da oben, mit denen er feilschte, so schlug er ihnen auch gründlich ein Schnippchen; in großen Sätzen gings abwärts; wie ein Gummiball sprang er von einem Felsvorsprung auf den andern, bis er plötzlich unten eine Zipfelmütze auftauchen sah – so weit, weit unten, daß er sie nur eben erkennen konnte. Augenblicklich blieb er stehen. Seine Flucht, sein ganzes Entsetzen, all das eben Erlebte war wie weggeblasen; nicht der leiseste Gedanke mehr daran. Jetzt wollte er Angst einjagen; auf den dort hatte er schon die ganze Zeit gelauert! Bewegung, Augen, Haltung, alles zeigte, wie er sich über die Gewißheit freute, ihn nun bald in Schußweite zu haben. Der sollte es kriegen!
Der andere kam einhergeschlendert, ohne zu ahnen, welcher Gefahr er entgegenging, langsam, als ob er seine Freiheit und Einsamkeit genösse; bald hörte man seine schweren Stiefel, den Klang der eisenbeschlagenen Absätze gegen die Steine.
Ein gutgewachsener Knabe, hellblond und vielleicht ein Jahr älter als der andere, der ihm auflauerte; mit einem losen Friesanzug bekleidet, einen wollenen Schal um den Hals, und große Fausthandschuhe an den Händen; er trug einen ländlichen Korb – blaugemalt, mit gelb-weißen Rosen.
Ein großes Geheimnis ging endlich seiner Offenbarung entgegen; seit Tagen war die ganze Schule darauf gespannt gewesen, wie, wo und mit wem der Zusammenstoß erfolgen werde, der jetzt drohte, wann der feierliche Moment der Abrechnung komme, in dem Ole Tuft vor einem Mitglied der gestrengen Schulpolizei endlich eingestehen mußte, wo er sich nachmittags und abends herumtrieb und was er da anstellte.
Ole Tuft war der Sohn eines wohlhabenden Bauern vom Strande draußen – das einzige Kind. Sein Vater, der vor einem Jahr gestorben, war der angesehenste Laienprediger der westlichen Lande gewesen und hatte schon frühzeitig seinen Sohn zum Geistlichen bestimmt, weshalb dieser jetzt das Gymnasium besuchte. Ole war begabt, fleißig und seinen Lehrern gegenüber von einer Ehrerbietung, die ihn zu ihrem erklärten Liebling machte.
Aber die Haare allein machen noch nicht den Hund (trau', schau', wem?). Dieser treuherzige, höchst ehrerbietige Junge blieb plötzlich den Nachmittagsspielen der Kameraden fern; zu Hause war er nicht (er wohnte bei einer Tante); bei Schultzes, wo er den Kindern Nachhilfstunde gab, war er auch nicht – das erledigte er gleich nach Tisch; auch nicht bei Rektors, d. h. bei Rektors Pflegetochter, Josefine Kallem, Edvards Schwester; Ole und sie waren dicke Freunde. Zuweilen sahen die Knaben ihn dort ins Haus gehen, aber nicht wieder herauskommen; und trotzdem war Josefine immer allein, wenn sie ihm nachgingen, um zu inspizieren; sie hatten nämlich Wachen ausgestellt – die Untersuchung wurde systematisch betrieben. Bis zum Schulhaus konnten sie seine Spur verfolgen; dort aber verschwand sie. Die Erde konnte ihn doch nicht verschlungen haben! Das Haus wurde durchschnüffelt von unten bis oben, jede Ecke, jedes Schlupfloch wieder und wieder durchstöbert. Josefine selbst führte die Jungens herum, bis hinauf unters Dach, bis hinunter in den Keller, in sämtliche Räume, wo nicht gerade die Familie selber sich aufhielt, versicherte auch auf Ehre und Gewissen, dort sei er nicht; sie könnten selbst nachsehen. Wo in aller Welt steckte er nur?
Der Primus gewann in diesen Tagen bei einer Lotterie "Les trois mousquetaires" von Alexandre Dumas dem Älteren, ein Prachtwerk mit Illustrationen; da er aber bald heraus hatte, daß das kein Buch für einen Gelehrten war, setzte er es als Prämie aus für den Kameraden, der entdecken würde, wo Ole Tuft seine Nachmittage und Abende zubrachte, und was er da trieb. Dies Angebot warf den zündenden Funken in Edvard Kallems Phantasie; er hatte nämlich bis vor einem Jahr in Spanien gelebt, er las Französisch wie seine Muttersprache, und "Les trois mousquetaires" war der wundervollste Roman auf der ganzen Welt – das hatte er immer gehört. Jetzt stand er hier auf der Lauer, für "Les trois mousquetaires"! Hurra, alle Drei sollen leben! Jetzt hatte er sie!
Leise, leise schlich er weiter, bis er den Fußweg erreicht hatte. Der Sünder war dicht vor ihm.
Edvard Kallems Kopf hatte etwas, das an einen Raubvogel gemahnte – die Nase wie ein Schnabel – die Augen wild, schon an und für sich und noch mehr dadurch, daß sie ein ganz klein wenig schielten. Die Stirn scharf und niedrig, von lichtbraunem, kurzgeschorenem Haar umrahmt. Eine auffallende Beweglichkeit ließ ahnen, wie geschmeidig er war. Eben jetzt wollte er ganz still stehen, aber der Körper bog sich, die Füße bewegten sich, die Arme hoben sich, als wolle er im nächsten Augenblick durch die Lüfte stoßen. "Bäh!" schrie er aus aller Kraft seiner Lungen. Der Ankömmling fuhr zusammen – fast hätte er seinen Korb fallen lassen. "So – jetzt hab' ich Dich! Jetzt hilft Dir keine Verstocktheit mehr!"
Ole Tuft wurde zu Stein. "Jawohl – jetzt stehst Du da! Hoho! Was hast Du in Deinem Korb?" Und er stürzte auf Ole los. Der aber nahm blitzschnell seinen Korb aus der rechten Hand in die linke und hielt ihn auf den Rücken; es war Edvard nicht möglich, ihn hervorzuzerren.
"Was denkst Du Dir denn, Mensch! Glaubst etwa, Du könntst mir noch entwischen? Her mit dem Korb!" – "Du kriegst ihn nicht." – "Wirst Du wohl gehorchen? So geh ich einfach hinunter und frag'!" – "Nein, nein!" – "Doch! Zum Kuckuck, wenn ich's nicht tu!" – "Du tust's nicht!" – "Ich tu's!" – Und schon drängte er an Ole vorüber, den Berg hinab.
"Ich will's ja sagen – versprich mir bloß, daß Du's nicht weiter sagst!" – "Nicht weiter sagen? Du bist wohl nicht bei Trost?" – "Doch! Du darfst nicht!" – "Blödsinn! was denkst Du Dir denn? Her mit dem Korb – oder ich geh'!" schrie Edvard. – "Wenn Du's nicht weiter sagst – —". Die Tränen traten Ole in die Augen. "Ich verspreche gar nichts!" – "Nichts sagen, Edvard! Nein?" – "Ich verspreche gar nichts. Den Korb her! Fix!" – "Es ist nichts dabei, Du!" – "Wenn nichts dabei ist, kannst Du's doch sagen! Fix!" Ole nahm das, nach Knabenmanier, für ein halbes Versprechen; flehend blickte er den andern an und faßte sich ein Herz: "Ich geh' dort hinunter, weil ich … weil ich … ach, Du weißt ja selber … auf Gottes Wegen!" Das Letzte sagte er sehr verlegen und brach in Tränen aus. – "Auf Gottes Wegen?" fragte Edvard, ziemlich unsicher. Er war aufs höchste verwundert.
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На этой странице вы можете прочитать онлайн книгу «Auf Gottes Wegen», автора Bjørnstjerne Bjørnson. Данная книга относится к жанрам: «Зарубежная классика», «Зарубежная старинная литература».. Книга «Auf Gottes Wegen» была издана в 2019 году. Приятного чтения!
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