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Bernhard Kellermann
Totentan

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© КАРО, 2008

Erstes Buch

I

Nach der Rückkehr aus seinem Krankheitsurlaub empfand Frank Fabian, Rechtsanwalt und Syndikus der Stadt, von der hier die Rede ist, mit großer Deutlichkeit die auffallenden Veränderungen, die in seiner Umgebung vor sich gegangen waren.

Der Nachtschnellzug, mit dem er damals ankam, hatte eine volle Stunde Verspätung, so dass er erst um ein Uhr seine Wohnung erreichte. Zu seiner Überraschung war Martha, das Mädchen, noch wach und öffnete die Tür, sobald er die Treppe heraufkam. Er drückte ihr herzhaft die Hand, indem er ihr dankte, dass sie wach geblieben war, und bat sie, ihm Rotwein ins Speisezimmer zu bringen.

«Meine Frau schläft wohl schon». fragte er, während er seinen Überzieher in der Diele ablegte. Er sprach mit gedämpfter Stimme, um seine Gemahlin, die nervös war und an Schlaflosigkeit litt, nicht aufzuwecken.

Ja, die gnädige Frau sei heute frühzeitig schlafen gegangen, antwortete Martha und versprach, den Rotwein sofort zu bringen.

Fabian befand sich in ausgezeichneter Laune. Er war froh, wieder zu Hause zu sein, und rieb sich vergnügt die Hände, während er die sommerliche Wärme in der Wohnung genoss. Sogar der sonderbare Geruch, den jede menschliche Behausung an sich hat, erfreute ihn. Nun schön, da war er also wieder!

Von der Diele begab er sich in sein Arbeitszimmer und schaltete alle Lampen ein. Alles war noch da, die bunte Bücherreihe seiner Bibliothek, auf die er stolz war, die wenigen Bilder und Kleinigkeiten, an denen er hing. Schon fühlte er sich zu Hause. Er liebte nichts mehr als seine Behaglichkeit und Ruhe. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel eingegangener Post, und er griff nach den Briefen, deren Abschriften er rasch überflog.

Auch die Arbeit wartet schon auf dich, sagte er befriedigt zu sich, während er sich in das Speisezimmer begab. Er konnte ohne Tätigkeit nicht leben, und die letzten müßigen Wochen des Urlaubs waren ihm zur Qual geworden.

Der Speisetisch war mit Blumen geschmückt und mit bestechenden Herrlichkeiten überladen. Kalter Braten und ein zerlegtes Brathuhn lagen auf einer kunstvoll garnierten Platte, umgeben von Schälchen mit allerlei Salaten und Leckerbissen. Fabian liebte es, gut zu speisen, und machte sich sofort, ausgehungert von der Reise, mit großem Appetit an die Mahlzeit.

«Und was gibt es sonst Neues in der Stadt, Martha». fragte er das Mädchen, das den Wein brachte. Er fragte eigentlich nur, um sich freundlich gegen das Mädchen zu zeigen, das so lange wach geblieben war. Martha, die schon gehen wollte, wandte sich ins Zimmer zurück und lächelte mit ihrem alten, verschlafenen Dienstbotengesicht. «Es gibt ja jetzt immer etwas Neue», antwortete sie und suchte in ihren Gedanken. «Dass Bürgermeister Krüger gehen musste[1], wissen Herr Doktor wohl schon».

Fabian fuhr zusammen, als habe er einen Stoß vor die Brust bekommen, und blickte das Mädchen mit offenem Munde an.

«Was haben Sie gesagt, Martha». fragte er ungläubig. «Wer musste gehen? Doktor Krüger musste gehen».

«Ja, Doktor Krüger musste von heute auf morgen[2] gehe», wiederholte das Mädchen.

Fabian fand noch immer kein Wort. Doktor Krüger war der erste Bürgermeister der Stadt, ein Freund und Studiengenosse Fabians. Er war bei allen Leuten geachtet und beliebt, außerordentlich tüchtig, und es ließ sich prächtig mit ihm zusammen arbeiten[3]. Sein heiterer Optimismus ließ niemals Erschlaffung aufkommen, und Fabian hatte sich seiner besonderen Gunst erfreut.

«Ja, so sagen Sie mir nur, Marth», brachte er endlich hervor, «weshalb in aller Welt Doktor Krüger gehen musste? Weshalb denn».

Martha zuckte die Achseln und blickte zu Boden. «Man sagt, weil er Sozialdemokrat war».

Fabian lachte ärgerlich. «Krüger war Zentrum und niemals Sozialdemokrat». sagte er etwas lauter, als er wollte.

«Man sagt, er hatte soviel mit Sozialdemokraten zu tu», berichtigte das Mädchen.

Wieder lachte Fabian und schüttelte erregt den Kopf. «Nun, und wer ist denn an seine Stelle gekommen».

«Ein Herr Taubenhaus».

«Taubenhaus». fragte Fabian kopfschüttelnd. «Woher kommt er denn».

Martha zuckte die Achseln und zog sich zur Tür zurück. «Man sagt, er soll Beamter in einer kleinen Stadt in Pommern[4] gewesen sein».

«In Pommern».

«Man sagt es. Ja, und dann soll das Kapuzinerkloster geschlossen werden, erzählt man sich».

Fabian lachte wiederum, diesmal aber mit gerunzelter Stirn. «Nun erzählen Sie wohl Märchen, Martha». sagte er ungläubig. «Das Kapuzinerkloster[5]».

Martha öffnete die Tür, da sie die Klingel auf dem Korridor gehört hatte. «Die Leute reden ja heute sehr vie», erwiderte sie achselzuckend. Dann fügte sie eilig hinzu: «Die gnädige Frau hat geklingel». und schlüpfte hinaus.

«Ich lasse meine Frau bestens grüßen, Marth», rief Fabian dem Mädchen nach. «Morgen früh werde ich ihr guten Tag sagen».

Die Ehe Fabian war seit längerer Zeit erschüttert. Die Gatten lagen in Scheidung, aber beide bewahrten vor der Welt noch freundschaftliche Formen.

Fabian goß sich ein Glas Rotwein ein und begann sich erneut an das Brathuhn zu machen. «Krüger musste gehe», murmelte er vor sich hin. Während er sich Tomatensalat auf den Teller legte, sagte er kopfschüttelnd: «Von heute auf morgen musste er gehen? Der arme Theo». Er nickte bedauernd mit dem Kopf. «Es ist schade um ihn, er war ein guter Junge. Gewiss hätte er mir auch im Januar mein Gehalt erhöht, wie».

Seine Müdigkeit war vergangen, und er war völlig wach geworden. Ja, es gingen Dinge vor sich im heiligen Deutschen Reich, es gingen wahrhaftig Dinge vor sich! Krüger entlassen, das Kapuzinerkloster vor der Auflösung, das verstand der Teufel!

Er nahm die Karaffe mit Rotwein und das Glas an sich und kehrte wieder in sein Arbeitszimmer zurück, um nach langer Abwesenheit noch eine Stunde der Stille in seinem Heim zu genießen. Aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mit der Ruhe war es vorbei. Immer wieder kehrte der Gedanke in seinem Kopf zurück, dass Dinge im heiligen Deutschen Reich vor sich gingen, unbegreifliche, überraschende und verwirrende Dinge!

Schließlich griff er nach einer Zigarre und ließ sich in einem bequemen Sessel nieder. Er streckte die Beine lässig von sich und dachte nach.

Ja, man sah sie schon seit langer Zeit in der Stadt herumlaufen. In ihren brauen Uniformen und hohen Reitstiefeln, als wären sie soeben von Schlachtrossen gestiegen, Lederriemen um die Schulter, erschienen sie halb wie Landsknechte, halb wie Cowboys. Sie sahen gut aus, man mochte sagen, was man wollte, stark, kräftig, mutig, tatendurstig, manche sogar verwegen. Sie benahmen sich im allgemeinen gesittet, manchmal etwas derb und ungehobelt, aber die Stadt hatte sich längst an sie gewöhnt. Erst waren es ihrer nur wenige, so dass die Leute sich nach ihnen umblickten, dann wurden ihrer immer mehr und mehr, aber auch an sie gewöhnte man sich. Nur wenn sie in ganzen Rudeln ankamen und mit ihren Sammelbüchsen[6] rasselten, erregten sie noch Aufsehen, und manche Leute, die ihre Groschen schwer verdienten, wichen den rasselnden Büchsen aus. Er selbst hatte stets etwas Kleingeld bereitgehalten – man sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass er sich ostentativ abseits halte, nein, es lohnte ja gar nicht die Mühe.

Auch heute im Zug hatte er sie wieder gesehen. Sie nahmen zwei Tische im Speisewagen ein und taten laut und anmaßend. Es waren zumeist junge, frische Leute, die von irgendeiner Tagung kamen, die ihnen neue Impulse einflößte. Manchmal schrien sie untereinander, und dann gingen ihre Blicke keck und herausfordernd über die anderen Gäste hin. Ohne Zweifel, ihr Selbstbewusstsein war in den vier Monaten seines Urlaubs überraschend gestiegen und ihr Machtanspruch auffallend gewachsen. Es sah ganz so aus, als seien sie über Nacht eine Macht im Staate geworden!

Fabian erhob sich und machte einige Schritte durchs Zimmer. Dann warf er sich wieder in den Sessel und überließ sich von neuem seinen Gedanken. Gut, erst waren es die sozialistischen Parteien, die ihnen nicht behagten, dann die bürgerlichen bis zu den konservativen, aber noch nicht genug, dann waren die Kirchen ihrer Machtgier im Wege. Sogar hier in der Stadt begannen sie Krieg mit den harmlosen Kapuzinern, die keiner Fliege etwas zuleide tun[7]. Ohne jeden Zweifel hatte die Partei in den vier Monaten weitere und immer weitere Kreise in ihren Ansprüchen gezogen, sie war mächtiger und stärker geworden! Und er hatte geglaubt, sie würde in ein, zwei Jahren abgewirtschaftet haben wie andere Parteien vor ihr. Fabian lachte still in sich hinein. Welch ein Irrtum, welch ein unbegreiflicher Irrtum! Gottlob, dachte er, bin ich nicht der einzige, der diesen Irrtum beging, es waren viel Klügere darunter, gottlob.

Es wird ja auch allmählich Zeit, zu Bett zu gehen, sagte er sich. Morgen wirst du alles mit ruhigen und klaren Augen betrachten. Morgen beginnt so etwas wie ein ganz neuer Tag! Er gähnte, ja, nun war er in Wahrheit jämmerlich müde.

Er schaltete die Deckenlampen aus. Morgen wirst du auch Clotilde begrüßen, nicht wahr? Erst jetzt kam ihm wieder seine Frau in den Sinn und der unselige Konflikt, der seine Ehe bedrohte. Nun, Clotilde wird sich in den vier Monaten wohl alles gründlich überlegt haben, Zeit genug hatte sie dazu. Wir werden es ja sehen, morgen wird es sich zeigen! Wenn sie aber auch jetzt noch auf der Trennung bestehen sollte?

Er hielt inne und lauschte in sein Inneres. Wie eigentümlich, dachte er, dass ich jetzt in aller Ruhe darüber nachdenken kann, während ich im Sanatorium schlaflose Nächte darüber verbrachte? Er stand eine Weile am Schreibtisch, müde und fast taumelnd. Wenn sie aber auch nach diesen vier Monaten noch auf der Trennung bestehen sollte, dachte er weiter, wenn sie es unbedingt, trotz der beiden Jungen, so haben will? Nun, dann soll sie eben die Trennung haben!

Er runzelte die Brauen und staunte selbst über seine Entschlossenheit. Nun schön, Clotildes Wille war noch immer Clotildes Himmelreich.

Er war zu müde, um irgendwelche Bitterkeit oder sonst irgend etwas zu empfinden, und begab sich in sein Schlafzimmer.

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