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Alexander Ilitschewski / Александр Иличевский
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

Translated into German by Valerie Engler and Friederike Meltendorf

© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.

All rights reseved.

© КАРО, 2019

Presnja[1]

I

»Na los! Schlag zu, gib’s mir! Ja genau, schlag mich!« Wadja war durch seinen Ausbruch ins Rutschen gekommen, er riss sich die Pelzjacke weiter auf, zerfetzte sich das Hemd über der Brust, Tränen flossen, sachte schob er Nadja von sich, die ihn zurückhielt, damit er den Jungs nicht noch unüberlegt hinterherrannte.

Sie waren zu viert, Straßenkinder, doch weil sie Wadjas Stolz in Gegenwart einer Dame[2] verletzt hatten, hatte er sie schlichtweg herausfordern müssen. Im Licht der Straßenlaternen liefen sie an diesem frühen Winterabend bei Tauwetter schnell die Malaja Grusinskaja hinunter, ruderten und rutschten durch den frischen Schnee, schauten sich immer wieder provozierend um, der Älteste, größer und frecher als die Übrigen, reizte Wadja immer mehr:

»Komm doch, du Affe! Versuch doch, uns einzuholen. Wir machen dich platt[3] – das vergisste so schnell nicht!«

Dem Jüngsten, er war vielleicht zehn, war der Ausdruck von Vertrauensseligkeit noch nicht aus dem Gesicht gewichen. Er ging ein Stück, verfiel in Trab, ging wieder, blickte umher. Da fesselte ihn der Anblick des schneebedeckten, raffiniert beleuchteten Timirjasew-Museums, das durch seinen Kaufmanns- oder gar Bojarenstil an Bilder aus Märchenbüchern erinnerte. Doch als der Junge sah, dass die anderen schon weit weg waren, nahm er eine Handvoll Schnee von der Balustrade, formte einen Ball, klopfte ihn fest, biss hinein, holte weit aus, zielte auf Wadja, warf und rannte dann schleunigst seinen Kumpels hinterher.

Wadja wollte ausweichen und kippte nach hinten, Nadja hatte ihn gehalten und knöpfte ihm nun die Pelzjacke zu, schaufelte den Schnee aus seinem Ausschnitt, klopfte Bart und Kragen ab, er heulte, und Nadja freute sich, dass die Straßenkinder endlich von ihnen abgelassen hatten und sie keine Angst mehr haben musste, dass sie Wadja verdroschen[4].

Leonid Koroljow*, ein Mann von etwa fünfunddreißig, Warenkoordinator eines Kleinhandelsunternehmens, der im Stau Richtung Krasnaja Presnja* kroch und die Szene schon ab der katholischen Kirche beobachtet hatte, wusste, dass sich Obdachlose und Straßenkinder bereits seit mehreren Wintern bekriegten. Dass die Jugendlichen, in Grüppchen zusammengeschlossen, zur Abschreckung manchmal Obdachlose töteten und so die Lebensräume im Untergrund von Konkurrenz befreiten: die Gleistunnel der Bahnhöfe, die Nischen unter den Brücken, die trockenen Kanalisationsschächte, die warmen Keller, die Müllhalden, die Bettelposten. Dass ihre Grausamkeit im Rudel kein Erbarmen kannte. Dass die Obdachlosen wegen ihres ausgeprägten Geizes zu gemeinschaftlichem Handeln nicht fähig und deshalb ihren größten Feinden gegenüber machtlos waren.

Koroljow befand sich schon kurz vor der Abzweigung zu seinem Haus. Die Straße war von einer seelenlosen Masse von Autos in Beschlag genommen[5]. Sie röhrten mit durchgebrannten Auspuffrohren, pfiffen mit erschlafften Keilriemen, schnurrten mit teuren Motoren, klackerten mit Spikereifen, wummerten mit den Bässen ihrer Anlagen, scherten immer mal auf die Gegenfahrbahn aus und plärrten, rülpsten, jaulten mit ihren Alarmsirenen. Die Autos verhüllten die Gerinnsel menschlicher Müdigkeit, Blasiertheit, Gehässigkeit, Unbedachtheit, Gleichgültigkeit, Versunkenheit …

Der Stau war eine Naturkatastrophe. Der Schnee fiel mal in dichten Flocken, einen Augenblick später hörte er auf, und man schaltete die Scheibenwischer aus, nur um sie im nächsten Moment wieder einzuschalten. Das Auto schubste ein dampfendes Schneekissen von der Kühlerhaube, kroch vorwärts, drehte auf der Stelle, wühlte im Matsch, riss sich plötzlich los, er bremste ab und schloss zu der langgezogenen Ziehharmonika aus Autos auf, die durch das aufleuchtende Rot an der Krasnaja Presnja erneut gestoppt wurde. Koroljow war mittlerweile weder in der Lage, Radio zu hören noch emotional am Straßenverkehr teilzunehmen.

Schneeflocken blieben an der Windschutzscheibe kleben, sackten zusammen, rutschten ab, wurden durchsichtig, flossen davon. Beim ersten Aufprall auf das Glas blitzte die polygonale Struktur der Flocken kurz auf, makellos streng und rein, herangeweht aus schauriger Höhe. Sie hob ihn über die Stadt, über die von stählernem Licht durchfluteten Straßen, über den schwarzen Rücken des Flusses und die Sehnen der breiten Prospekte, über Hochhäuser und Straßenbuckel, über das Schweigen der flirrenden, tanzenden Stoffbahnen des Schneegestöbers, hinter das Trübe der tief hängenden Wolkenfetzen, dorthin, wo die Sterne funkelten, wo er allmählich der Welt entrückte, immer höher und weiter aufsteigend über die hügelige Kaviarkette aus Stadtlichtern – und dieser Aufstieg war sein tiefer Seufzer.

Koroljow haute den Gang rein und dachte voller Wut, dass das Unbelebte anständiger war als das Menschliche, dass im strengen Aufbau eines winzigen Kristalls mehr Sinn und Schönheit, irgendetwas von Bedeutung steckte, das ihm hätte erklären können, wozu er lebte, als in der Unmasse an Menschen, die diese Stadt überfüllten.

Mit jeder Vorwärtsbewegung des Staus holte er das Obdachlosenpärchen wieder ein. Die beiden hoben sich deutlich von allem ab, was man sonst auf der Straße sah, die verschlungen wurde von den Rücken und dem Gang der Fußgänger, von der Hast der Händler und Büroangestellten, dem aufgeregten Passgang der Jugendlichen, die aus der Metro in die Kneipen strömten, und von der trägen Dreistigkeit der Plakatkleber, Straßen- und Stadtarbeiter. Zwar waren ihre Gesichter nicht zu sehen, doch in der bloßen Silhouette dieses Paares, in den Bewegungen, in dem, wie sie ihn zurückhielt, ihm mit ihrem ganzen Wesen zugewandt war und wie er – stämmig, bärtig, verlottert, mit offener Jacke – unsicher auf den Beinen stand und versuchte, ihr mit zitternden Fingern über das verfilzte Haar zu streichen, sie auf die Schläfe zu küssen – darin lag ein Drama, jedenfalls etwas Außerordentliches, etwas derart Unwirkliches, dass es an eine Oper erinnerte und den dunkel brodelnden Dunst der Stadt verdrängte.

II

Koroljow kannte Wadja und Nadja bereits, wusste aber nicht, wie sie hießen. An seiner Haustür gab es keine Gegensprechanlage, und das mechanische Codeschloss war mit einem kräftigen Schlag auf die abgenutzten drei Knöpfe in der unteren Reihe problemlos zu öffnen. Es war das am leichtesten zugängliche Treppenhaus in der ganzen Straße. In Frostnächten war der Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock von Mitternacht bis morgens um sieben von Obdachlosen belegt. Wenn man spät nach Hause kam, musste man über sie hinwegsteigen, und der Geruch, der immer dichter, immer unerträglicher wurde und sich umso weiter im Schacht des Treppenhauses ausbreitete, je länger ihre Lumpen und Fußlappen an dem einzigen, die oberen Stockwerke versorgenden Heizkörper auftauten, verursachte Brechreiz. Die Obdachlosen – sei es die dicke Alte oder der Junge in Bikerjacke und verschlissenen Filzstiefeln mit Galoschen, der sich jedes Mal seine Fußmatte unterlegte, oder der einbeinige alte Kahlkopf im Armeeparka, den er einmal hatte seufzen hören: »Rette uns, o Herr«, oder sonstwer, für Koroljow verschmolzen sie alle zu einer einzigen aufgedunsenen, unförmigen Gestalt – versteckten ihre Gesichter und brummelten etwas, und Koroljow nahm dieses Brummeln irrtümlich als Entschuldigung.

Er wohnte jetzt schon das dritte Jahr in diesem Haus, in einer Eigentumswohnung, für die der Kredit noch nicht abbezahlt war. Er, der seine Kindheit im Internat, seine Jugend im Studentenwohnheim verbracht und Unbehaustheit im Laufe seines Lebens heftig zu spüren bekommen hatte, mal bei Freunden untergekommen und von den Freundesfreundinnen wieder vertrieben worden war, mal in Mietwohnungen oder Wohnungen von Freundinnen, die dann doch keine Ehefrauen wurden, mehr als einmal wegen Wohnungsreibereien die Nacht auf Bahnhöfen verbrachte hatte, wo er davon träumte, eine Reise in ein neues Leben anzutreten, oder bis zum Morgen auf dem Boulevardring spazieren gegangen und im Morgengrauen auf einer Bank eingeschlafen war – er hatte die Obdachlosen anfangs freundlich aufgenommen. Er hatte sich so sehr über seine Wohnung gefreut, über die eigenen vier Wände, dass es ihm unmöglich schien, nicht wenigstens ein kleines bisschen seiner Sesshaftigkeit mit ihnen zu teilen, und sei es nur indirekt. Er brachte ihnen Zeitungen als Schlafunterlage, schenkte Tee in Plastikbechern aus[6] und bat sie, sauberzumachen, die durchgeweichten Zeitungen, die Pappen und Lumpen fortzuschaffen, keine leeren Flaschen oder stinkenden Müll liegenzulassen. Er besänftigte die Nachbarin von unten, eine langnasige alte Syrerin, die fluchte, warum er sie auch noch anlocke, die würden hier doch sogar ihr Geschäft verrichten und nicht wegmachen.

»Aber hören Sie mal, Nailja Iossifowna, wie kann man denn jemanden, der kaum noch lebt, in die Kälte hinausjagen? «, versuchte Koroljow sie zur Vernunft zu bringen[7], und das stinkende gesichtslose Wesen auf dem Treppenabsatz begann zu brummeln. »Der schafft es doch nicht mal bis zum Bahnhof, außerdem lassen sie ihn da eh nicht rein, in die Metro lassen sie ihn auch nicht, und im Nachtasyl nehmen sie nur Nüchterne. Wenn Sie die Bullen rufen, die prügeln ihn entweder zu Tode oder jagen ihn aus dem Haus. Sie wollen sich doch nicht versündigen?«

Die Alte winkte ab, schnaubte und schloss die knirschende Tür. Koroljow, der den Atem anhielt, aber bald krampfhaft zur Seite nach Luft schnappen[8] musste, bat daraufhin die Obdachlosen, doch wenigstens nicht ins Treppenhaus zu machen. Die brummelten wieder etwas, wälzten sich dabei auf dem Boden herum, klirrten mit Flaschen, raschelten mit Zeitungen, und erneut nahm Koroljow dies aus irgendeinem Grund als Zeichen des Einvernehmens, doch am Morgen sah er, wie der trübsinnige usbekische Hausmeister mit einer Wäschezange die Hinterlassenschaften der Obdachlosen in einen Sack stopfte.

Koroljow hielt sich die Nase zu und steckte dem stummen Usbeken im Vorbeigehen einen Schein zu, rannte nach unten, und während er bei Eiseskälte in seinem reifbedeckten Wagen schlotterte, unter dessen Haube ein nicht warm werden wollender Motor klopfte und pochte, redete er sich ein, dass es für geschwächte, berauschte Menschen schwer, ja geradezu unmöglich sei, sich schlaftrunken aufzurappeln und aus dem Warmen in die Kälte hinunterzusteigen, um die Notdurft zu verrichten.

Mit der Gastfreundschaft war es für ihn dann nach zwei Vorfällen im letzten Winter vorbei gewesen: Ein großer Haufen Scheiße auf der Treppe und eine Prügelei der Obdachlosen untereinander samt dreister Bullen, Blutlache und zurückgelassenem Schustermesser.

Am Abend desselben Tages hatte er auf dem geschrubbten Treppenabsatz die dicke Alte vorgefunden. Er brüllte sie an und stampfte mit dem Fuß auf. Er schrie, sie solle auf der Stelle verschwinden, wählte auf dem Handy die 02, aber da war besetzt, er brüllte wieder, rannte die Treppe hinauf zu seiner Wohnung und wieder runter. Die Alte rappelte sich auf, ächzte, drehte sich um, und der durch die Bewegung aufgewirbelte Gestank verschlug ihm den Atem, zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er sank in sich zusammen und verstummte. Da trat Nailja Iossifowna aus der Tür, sie hielt ihren Kittel am Kragen zu und rief mit drohender Geste:

»Ruhe! Ruuuhe!«

Und versteckte sich sofort wieder hinter ihrer Tür.

Koroljow hatte in ihren riesigen Basedow’schen Augen Tränen stehen sehen.

Unter dem anschwellenden Geknurre der Pennerin beeilte er sich zu verschwinden.

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